Rheinschluchzen by Irli | #flussnoten

[Irli] Linde oder Hainbuche? Dichtes Blattwerk. Ein Wegweiser. Eine Bergwiese. Rucksäcke liegen. Wir auch. 
Wie aus Sehschlitzen einer alten Vaubanfestung beobachten wir die Welt. 

Blick auf Bergwiese nahe Versam. Wanderwegschild.  Gesehen aus dem Schatten einer Buche oder Linde Drei vier Häuser nebenan. Zwei Transporter. Ab und zu schlagen die Türen, schrappt eine seitliche Schiebetür. Blecherne Geräusche, die sich ins Rauschen des Winds mischen. Insekten summen. Zwei Arbeiter werkeln an den Häusern. Sie sind vom Elektrizitätswerk, erfährt Frau SoSo, als sie kurz rübergeht, um nach Wasser zu fragen. Es ist heiß. So verdammt heiß, dass ich mehr kollabierend, als aufrecht die Serpentinen hier hoch gekraxelt bin. Blick auf Versam, wo wir heute morgen vor 11:30 einkaufen konnten. Zum Glück. Die Läden haben im Safiental eher unkapitalistische Öffnungszeiten. Keine Hektik. Kein Bedarf vielleicht? Und im Dorf, ich erinnere mich an die Kindheit in der Nordpfalz, kann man ja beim Kaufmannsladen klingeln, wenn man dringend etwas braucht.

In Versam räumten die Postler die Pakete vor die Tür der kleinen Filiale, warteten. Der Postbus kam. Normalerweise transportieren die gelben Busse in der Schweiz Menschen. Das Netz ist gut und bringt einen in die entlegensten Ortschaften. Dieser hatte einen Anhänger, der abgekoppelt wurde und stehen blieb. Die Postler räumten die ankommenden Pakete aus und die zu versendenden in den Anhänger. Dann fuhr der Kollege der Briefpost an mit einem winzigen Fiat. Fütterte die Briefkästen, war schon wieder fast im Auto, als eine Stimme aus dem Dorfladen ihn zurückorderte: „Vergiss die Melone für die Soundso nicht.“ Alle sind per Du.

Das Vorderrheintal ist in der Gegend um Flims unheimlich zerklüftet. Graue Steinmassen ragen steil empor. Unten liegt Schutt. Der Fels ist nicht sehr hart. Vor zehntausend Jahren verschüttete der Flimser Bergsturz das gesamte Tal und der Rhein gräbt sich seither ein neues Bett. Auf Karten am Wegrand sind die gefährdeten Stellen markiert. Eigentlich überall kilometerweit. Wir wandern mitten hindurch. Manchmal auf zehn Meter hohen, grauen, zu Staub zerfallenen Überresten, auf Graten. Bäume, deren Wurzeln zur Hälfte über dem Abhang in die Luft ragen. Angezählt. Einsame Brocken, die wie in einem Geduldsspiel, bloß nicht wackeln, auf schmalen Zinnen zu liegen kamen. 2002 verursachte ein Bergsturz eine Flutwelle, die Personen am Ufer verletzte. Personen wie wir. Immer, wenn es möglich ist, stapfen wir hinunter zum Fluss, schöpfen Wasser, ruhen uns aus, baden sogar (bis zum Bauchnabel habe ich es schon geschafft). Das Wasser ist eiskalt. Kneipp war ein Weichei gegen das hier. Sofort setzt Kälteschmerz in den Waden ein. 

Wanderweg über einen grauen Damm aus Bergschutt. Daneben steile Felsen und ein Stück Himmel. Winzig eine Wanderin. Der Wanderweg kann nicht mehr dem Fluss folgen. Nur noch Kajakfahrer kommen da durch. Manchmal ist der Fluss ganz bunt von gelben, blauen, roten und grünen Booten. Helme, Spritzwesten, Helmkameras, eine Kanuschule am Bahnhof Versam. Sonst nichts. Das Dorf liegt kilometerweit entfernt und zweihundert Meter über dem Fluss.

Die gestrige und heutige Strecke war weitaus anstrengender, als die siebenhundert Höhenmeter am ersten Tag vom Oberalppass bis zum Pazzolastock. Schöner? Alles ist schön, seit wir die Surselva durchwanderten. Nun sind wir in der Ruinaulta. Versteh einer die Namen. Auch die sind schön. Und die rätoromanische Sprache. Irgendwie ist es wie der Fluss, der Rhein, Land und Leute wechseln stetig das Gesicht, mal lieblich, mal schroff charmant, mal zum Schluchzen ergreifend. Rheinschluchzen. 

Viele bunte Kanufahrer auf dem Vorderrhein Mittagshitze. Das Gröbste an Steigung haben wir womöglich hinter uns und braten nun im Schatten. Das Wäldchen da hinten gibt den Blick auf Versam frei. Wir sind höher als heute morgen. Zwischen hier und dort tobt der Versamtobel, den wir auf einer alten Brücke überquerten. Parallel die neue Betonbrücke und dazwischen sind Wäscheleinen gespannt. Fünfzig Meter lange Seile voller alter Kleidungsstücke. Eine Kunstinstallation ganz nach meinem Geschmack.

Ab und zu schlägt die Kirchglocke in Versam und hoch oben tosen Flugzeuge.

4 thoughts on “Rheinschluchzen by Irli | #flussnoten


  1. Hallo Juergen,
    danke fuer diesen wunderbaren Bericht: ganz prima zum Nacherleben! Du machst mir wirklich Lust auf die Gegend. Noch mehr Lust, als ich ohnehin schon immer hatte. 🙂
    Weiterhin schoenes und sicheres Wandern Euch beiden,
    Pit


  2. Ach schön, wenn der Flüss fliesst, die Post verteilt wird, die Melone auch nicht vergessen wird, die Sommersonne scheint, die erhitzte Wanderin und den erhitzte Wanderer im Schatten ihr Mütchen kühlen.
    Ich bin wieder gerne mitgewandert

    Träumt bunt, ihr Zwei
    herzlichst Ulli

Schreibe einen Kommentar zu SoSo Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert