Finale | by Irli #flussnoten

Ich habe das Radel absichtlich nicht abgeschlossen. Auf dem Campingplatz Hoek van Holland steht es vor dem Zelt. Unwahrscheinlich, dass es geklaut wird. Ich bin der einzige Gast. Am Abend war ich zu faul, noch einmal aus der heimeligen Nylonhöhle zu kriechen und das Schloss um den Hinterreifen zu legen, den Spanngurt zwischen die Speichen zu winden und möglichst unsichtbar übers Gras zu einem Hering direkt neben meinem Kopf zu legen. Minimale Sicherungsmaßnahmen, die ich manchmal mache, wenn ich in einer Gegend, bin, in der es nicht so sicher zu sein scheint. Keine Frage, der Platz hier gehört, zumindest außerhalb der Saison, zu den gefühlt sicheren Orten. Diebe werden sich nicht hierher verirren, da es hier kaum Gäste gibt. Kein Gast, nix zu holen. Zudem ist der Campingplatz eingezäunt und videoüberwacht.

Mit dem Gedanken, dass das Radel geklaut werden könnte und dass das gar nicht so schlimm wäre, schlief ich ein. Wenn es ein Auto wäre, hätte es mit seinen acht Jahren und zigtausend Kilometern ohnehin nur noch Schrottwert. Also lasse ich mich gestern Abend auf ein Gottesurteil ein. Ist das Rad morgens weg, spare ich mir viel Mühe für die Rückreise. Das Transportieren von Fahrrädern ist ein Graus. Im Flugzeug ist es fast einfacher, als mit der Bahn. Gestern versuchte ich eine Stunde lang, ein Zugticket in die Heimat zu buchen inklusive Fahrradreservierung. Scheiterte. Ich probierte zwei verschiedene App-Versionen der Deutschen Bahn und auf dem Minibildschirm des Smartphones auch die bahn.de Webseite. Nirgends fand ich einen Knopf, mit dem ich einen Fahrradplatz im IC hätte reservieren können. Die alte App zeigte fahrradfreundliche Verbindungen an, verwies aber zur Buchung des Fahrradplatzes auf die bahn.de Seite. Die neue App scheint gar keine Fahrräder vorzusehen. Auf der Webseite über den Browser war Ticketbuchung möglich, auch Sitzplatzreservierung, aber wo zur Hölle ist die Option, einen Fahrradplatz zu kaufen?

Klägliches Scheitern an einem sonnigen sommerlichen Herbsttag am Meer. Das war der Nährboden für Plan B.

Wenn es das Fahrrad bei der Deutschen Bahn im Fernverkehr de facto nicht gibt, muss ich versuchen, mit Fahrrad ohne Fahrrad zu reisen.

In Hoek van Holland gibt es zwei Fahrradgeschäfte. Ich organisierte einen Karton bei demjenigen, der dem Bahnhof am nächsten ist, um 16 Uhr heute werde ich ihn abholen. Es sind nur fünf Minuten zu Fuß vom Laden bis zur Bahnstation (in der es keinen Servicecenter gibt). Buchte per App einen Nachtzug mit drei Mal umsteigen ohne Fahrrad. Das Hirn zerlegt seither das Radel in Einzelteile, damit es sich in ein koffergroßes Gepäckstück verwandelt. In Netzforen konnte ich keinen Hinweis finden, wie groß Gepäckstücke im Zug maximal sein dürfen. Einer schrieb, dass er sogar eine Harfe im Zug mitnehmen konnte. Guter Plan. Ich werde meinem Paket das Aussehen einer Harfe oder eines Kontrabass‘ geben und behaupten, ich sei Musiker aus New York und gebe ein Konzert bei einem Jazzfestival. Helgeschneidereskes Schmunzeln auf den Lippen, leise umschmeichelt die Melodie „Katzenklo, Katzenklo, ja das macht die Katze froh“ mein Lächeln.

Perfekt.

Das Radel steht noch immer vor dem Zelt. Übertürmt von altmeisterlichen haushohen Wolken, die in allen Gelb- und Rottönen von der Sonne entgraut werden. Wind zaust am Zelt. Der Kaffee kocht. 

Zuerst werde ich das Radel auf den Kopf stellen, Pedale ab, Räder raus, Kette mit Folie stretchen, Lenker quer und vielleicht die Stange ein Stück zum Sattel verschieben. Das hintere Schutzblech muss auch ab. Jeder Zentimeter zählt. Das Paket sollte nicht länger sein, als zwei Bahnsitze breit. Wie breit sind zwei Bahnsitze?

Das Hirn arbeitet auf Hochtouren. Alles Gepäck soll zwischen die Gebeine des Fahrrads. Wie ein Keltengrab. Beigaben einer Europennerreise.

Wenn ich den Umstieg in Utrecht in den deutschen Zug schaffe, könnte es klappen. Wenn nicht, lande ich wieder draußen auf der Straße und muss mir ein Wildzeltplätzchensuchen. Was also habe ich zu verlieren, außer einen Tag später daheim ankommen und 50 Euro für das Zugticket?

Man muss sich immer auch die Frage stellen, was denn eigentlich auf dem Spiel steht, ehe man die Gedankenmühle ankurbelt und sich schlaflose Nächte macht ob einer problematischen, bevorstehenden Situation. Am Beispiel der komplizierten Bahnreise lerne ich, dass es eigentlich wenig gibt, was es wert wäre, grübelnd nagend wachzuliegen.

Ich habe gut geschlafen.

Der Tag erwacht und die Sonne zeigt sich sogar. Der Wind lässt nach.

Unangenehme Situationen sind oft nur deshalb unangenehm, weil man denkt, sie könnten unangenehm werden. Mentale Vergeunangenehmung sozusagen …
+++

Hier folgt ein Rohtext in Listenform. Die Flussnoten enthalten einige Beiträge, die im Blog nur als Skizzen vorhanden sind. Als privat geschaltete Artikel werden sie nicht öffentlich angezeigt. Ich habe sie für eine spätere Bearbeitung angelegt, um sie für die eBook-Ausgabe zu verwenden. Denn, seid Euch gewiss, zwischen fertigem Buch und live auf der Straße geschriebenen Texten liegt noch viel Fleiß.
Ich denke, es gehört auch zu meiner Arbeit, einmal einen Einblick in die Innereien zu gewähren. Wer mag, liest weiter.

Zudem dürfte diese Passage auch für das geplante Sach-eBook „Liveschreiben“ interessant sein. Sozusagen als finales Exempel.

  • Kinderdijk, 19 alte Mühlen. In der Phantasie sind sie die Wiege Hollands. Die Landmacher. Recherche, was sie tatsächlich sind erforderlich.
  • Aus Rhein wird Land.
  • Bin ich ein Fluss, ist der Fluss ich, Menschenfluss, Flussmensch, Lebensfluss (das, was sich sowieso schon die ganze Strecke durchs Buch zieht).
  • Rotterdam, seine dodeligen (tödlichen) Radwege, Mopeds erlaubt, Zweitaktgestank, Feierabendfahrradverkehr, unheimlich laut, schnellraus-Gefühl.
  • Rotterdam toppt alles bisher Gewesene, London, Barcelona, Göteborg, Oslo, Lyon, sogar das radweglose Berlin (finale Konzentration aller Fahrradreisen auf diesen einen Punkt)
  • Finale vierer Radreisen, Ums Meer, Ans Kap, Gibrantiago und Flussnoten, sehr würdig.
  • Schmerz lässt nach in Form von Stille jenseits von Maassluis.
  • Naatrecreation (opener für einen Artikel) – was heißt das, ist das etwa ein freier Zeltplatz, kunstbübchennaive Frage. Zwei Frauen erklären. Schöne lauschige Wiese am Rhein.
  • Ewig rottert der Damm.
  • Noch einmal die große Mensch-Waren-Dienstleistungspumpe beschreiben am Bild der einlaufenden Containerschiffe, des Warenumschlags,des wundersamen Verwandelns von unter erbärmlichen Bedingungen Produziertem in dienstleistungsgesellschaftstaugliche Häppchen – als Beispiel fertiger Krabbensalat in Plastikbox.
  • Die Stille des Lidlmarkts, dreimal rechts abbiegen in (muss ich auf der Karte nachschauen).
  • Begegnung mit dem Nordseeradweg LF1 (was bedeutet das Kürzel LF, Landesfietsroute womöglich, Recherche), Begegnung mit der Reise um die Nordsee von 2012, Ringschluss, Reisezyklus endet.
  • Camping de Kraii, Jogger sagt ja, Mofamann sagt nein, seit sechs Jahren geschlossen, noch immer auf Googlemaps, folgt: in der Dämmerung zurück zu den Wildzeltplätzen (Anker zur Naatrecreation), was in zwei Sackgassen vor der unüberwindlichenBahnlinie endet. Guter Nachtplatz trotzdem.
  • Erwachen der Staplerfahrer, ihre ferne Fröhlichkeit, das Firmenradio, der Tanz.
  • Camping Hoek, doch offen, 8,75 Euro vergleich zu Slingeland mit 13 Euro.
  • Wildzelten geht doch in Holland – eigener Artikel zum Thema Wildzelten auf Anregung von Twitterfreund bodehase.
  • Die Rheinmündung (Bilder) 1032,6
  • Lakritzes Stein, immer geben mir die Leute Steine mit auf Fahrradreisen, die ich irgendwo freilassen soll. Ostsee-Nordsee, Anitas Stein zum Nordkap, der auf mysteriöse Weise verschwand.
  • Strandleben, Treffen mit Klaus aus Bonn, der von einem Zeitungsartikel erzählt, der vielleicht über mich geschrieben wurde, aber es gibt viele meiner Sorte, der Artikel könnte von Jedem handeln. (Anker zu den beiden Flusschwimmern,zu all den vielen Vielen).
  • Gespräch über die Wirtschaft (Weltenmenschengüterpumpe, die Gesellschaft als Gesamtorganismus, was dem Grundton des Buches mitschwingt Frage: was, wenn im steten Voranschreiten und Wachsen global etwas aus den Fugen gerät, eine Katastrophe definitiv – und ein Fazit, dass es auch irgendwann so kommen muss.
  • Dennoch weitermachen wie bisher. Ich, du, alleine, gemeinsam, alle.
  • Rückfahrtsspießrutenlauf.

Bis hierher gelesen? Dankesehr. Dies ist der letzte Artikel des live geschriebenen Buches. Frau SoSo und ich werden den Herbst damit verbringen, es in ein eBook zu verwandeln. Auch eine Umsetzung als echtes Buch mit Bildern ist in Planung. Wers haben mag, gebe hier per Kommentar kurz Laut.

17 thoughts on “Finale | by Irli #flussnoten


  1. Am liebsten wäre mir das „echte“ Buch, koste es, was es wolle 😉

    hej, du bist wieder einmal an einem Ziel angekommen und vielleicht schon auf dem Rückweg … komm gut daheim an, gerne aber wüsste ich noch wie es dann mit deiner Fahrradharfe ausgegangen ist …
    liebe Grüße
    Ulli


  2. Hallo Juergen,
    ich hoffe, Du bist mittlwerweile trotz aller Widrigkeiten mit dem Radticket gut und heil zuhause angekommen. Die DB scheint aber wirklich etwas gegen Radler zu haben. Schon mal dran gedacht, Deine (negativen) Erfahrungen dem ADFC mitzuteilen? Die waeren bestimmt daran interessiert.
    Hab’s fein,
    Pit
    P.S.: Am E-Book, noch (viel) mehr aber an einer grdruckten Ausgabe von „Flussnoten“ waere ich sehr interessiert.


  3. Worte, die es gar nicht gibt, von dir geschaffen! Hier meine heutige Hitliste:
    1. Mentale Vergeunangenehmung
    2. Helgeschneidereskses Schmunzeln
    3. Weltenmenschengüterpumpe
    Am Buch zeige ich dereinst sicher auch hohes Interesse!
    Die Idee mit der Harfe, ach, ach – ein Musikerdasein stünde dir auch!


  4. Hallo Jürgen,
    da habe ich ja tatsächlich eine namentliche Erwähnung in deinem Blog ergattert :o) … stichprobenartiges Überfliegen so einiger deiner Tourstationen vermitteln bereits interessante und lebhafte Einblicke in deine Begegnungen, Erlebnisse und reflektierte Gedankenwelt.

    Leider konnte ich – trotz „recyceln“ des Inhalts der letzten 10 Tage aus unserer Altpapiermülltonne sowie Online-Recherche beim General-Anzeiger Bonn – den besagten/behaupteten Artikel nicht zutage fördern … mache mir aber vorerst nur mäßige Sorgen um den Zustand meines Gedächtnisses, das mir weiterhin lebhaft einen Artikel mit Bild eines kopfbetuchten Radlers vor der Kulisse des Siebengebirges suggeriert und der inhaltlich eine Art Kunst-Reise-Kombi-Projekt beschrieb, wobei der Autor meiner (getrübten?) Erinnerung nach wohl auch seinen Beitrag in etwa so einleitete: „Bedauerlicherweise verspätet haben wir davon Kenntnis erhalten, dass Bonn Zwischenstation eines Radreiseprojektes entlang des Rheins gewesen ist …“

    Werde einfach kommende Woche mal bei der GA-Redaktion anklopfen und mächtig auf deren Resonanz gespannt sein.

    Schöne Radler-Grüße von mir hier daheim nach dir dort zuhause ;o)
    Klaus

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