Waterframe by Irli | #flussnoten

Wir sind viele. Die Schranken unweit des Bahnhofs zu Lindau sind unten. Vor der Barriere stehen diesseits und jenseits unzählige Radfahrer. Tagesradler mit Rucksäcken oder kleinen Packtaschen mischen sich mit schwer beladenen Reiseradlern und Familien mit Kinderanhängern.Stille und Warten. Ein Mädchen mit Rucksack, an dem ein Schild baumelt macht sich verstohlen über die Brombeerhecke am Zaun eines Kleingartens her. Parkende Kleinwagen vor dem Türchen zu den Gärten. Wie Zaungäste wirken die Radler auf der anderen Seite der Bahnlinie. Neuankömmlingereihen sich ein in die Traube. Manche drängen bis nach vorne. Es ist nicht abzusehen, was passiert, wenn die Schranken hochgehen. Werden wir einander durchdringen in dem Nadelöhr? Ein Zug fährt in den Sackbahnhof, der am Fähranleger endet. Die Schranke bleibt unten. Minutenlang. Zu lang. Inneres Hufscharren. Latente Unruhe. In der Mitte zwischen den Gleisen steht das Bahnwärterhäuschen. Davor derjenige, der die Macht hat über die Schranke. Der Beruf des Bahnwärters, er schien längst ausgestorben. Ich erinnere mich an das kleine Dorf Alsenz, in dem ich meine Kindheit erlebte. Es gab zwei Bahnübergänge. Beide wurden von Bahnwärtern bewacht, die tagein tagaus die Schranken auf und zu machten. Keine Automatik. Lange, schwere Kurbeln, mit denen sie die Mechanik bedienten. Es kam manchmal vor, dass sie vergaßen, die Schranken zu schließen. Das war dann tagelang Dorfgespräch. Nie kam jemand zu Schaden, zum Glück.Via Bregenz bin ich auf dem gut beschilderten Bodenseeradwegdie vielleicht fünfzehn Kilometer durch Österreich bis hierher geradelt. Das ein oder Andere kam mir bekannt vor. Die Seepromenade. Die Strände. Menschen am Ufer, sonnebratend. Eine neue Brücke über die Bregenzer Ach erspart uns Radlern den verkehrsreichen Weg über die Straßenbrücke. 2011 wurde sie eröffnet, steht auf einem Schild.

Es ist heiß. Ich grüße nicht mehr. Wir sind einfach zu viele. Das macht das Radreisen auf dem Seeweg unpersönlich. Wenn man alle grüßen wollte, selbst nur die Radreisehelden, nur die Langstreckler, käme man aus dem Hallo-, Grüezi-, Servussagen gar nicht mehr raus.

Ich frage mich, ob die Schneeflocken, die allwinterlich bei der Rheinquelle am Gotthardmassiv niedergehen einander grüßen würden, wenn sie beseelt wären. Hallo, frostiger Freund, wie gehts? Wie wir Menschen, sind auch Schneeflocken einzigartig. Keine von ihnen sieht genauso aus wie die Andere. Aus der Ferne betrachtet sind sie nur weißes Zeug, das nach langem Flug nebeneinander zu liegen kommt in einem Schneefeld überwintert, im Frühling schmilzt, jegliche Individualität verliert, zu Wasser wird, Rhein wird und im Kollektiv dahintreibt.

Die Bahnschranke zu Lindau könnte so eine Art Staustufe für den Radlerstrom sein.

Ich frage mich, was passiert, wenn es dem Bahnwärter zu viel wird. Wenn er Angst kriegt vor den Radlermassen vor der Schranke. Angst, dass, wenn er die Schranke hebt, die Zeit nicht reicht, dass alle durchpassen zwischen zwei Zügen und dass er deshalb die Schranke für immer unten lässt. Auf ewig gestauter Menschenstrom. Werden wir rebellieren? Die Schranke überklettern? Sie niederreißen? Das Murren zwischen zwei Regionalzügen ist schon jetzt zu spüren.

Da. Endlich hebt sich die Barriere nach dem ausfahrenden Zug und wir durchdringen einander. Keine Ahnung, wieso das kollisionsfrei möglich ist. Ein einziges Gewusel und der Bahnwärter ruft, dass man sich beeilen solle, und er betätigt sorgsam die Automatik für den nächsten Stau. Mit Gebimmel kündigt sich die Barrikade an.

Der Bodenseeradwegist mit einer perfekten Infrastruktur versehen. Ein Campingplatz am anderen, zur Hochsaison proppenvoll. Ferienwohnungenund Hotels, oft mit digitalen Schildern davor, auf denen man lesen kann, ob sie noch freie Betten haben. Die Restaurants quellen über vor schmatzenden Gästen. Frittenfettgeruch. Es gibt massenhaft Sehenswertes in den Dörfern und Städtchen. Museen, Kinderbespaßung, Straßencafés, Freibäder, Strände, Parks, Bänke, Bäckereien, Pfahlbauten, geschichtliche Themenwanderwege mit Schildern, wie man in der Bronzezeit lebte. Ein perfekter Radweg, aber zu oft auf oder direkt neben der Straße, als dass er mir als Erste-Sahne-Radweg durchginge.

Für eine Weile verfange ich mich in einem gar nicht so weit hergeholten Vergleich des derzeit aufkeimenden Rassismus europaweit, weltweit mit unserer Situation der Vielen auf der limitierten Trasse. Ist es womöglich ansatzweise hier zu ahnen, wie es im Großen läuft? Was, wenn die Radler plötzlich auf die Idee kämen, Herrenrasse zu sein und die Inliner, Spaziergänger, Dahinträumer, Langsamfahrer würden zu unwertem Leben erklärt? Zwei Autos von Handwerkern schmälern den Weg irgendwo vor einem Privathaus. Sind deshalb alle Autofahrer, auch die, die auf ihren Straßen ordnungsgemäß dahinfahren niederträchtige, böswillige, zu diffamierende, auszumerzende Teile unseres gemeinsamen Daseins?

Teufelnocheins ertappe ich mich selbst dabei, Ärger und Unmut zu schüren über zum Beispiel eine Phalanx aus vier versonnen quer den Weg blockierenden Spaziergängern.

Genug.

Der Bodenseeradwegwie ich ihn von früher als meine radlerische Kinderstube kenne, existiert nicht mehr. Zum Einen, weil ich ihn erstmals in der Hauptsaison radele und zum Anderen, wir sind bestimmt viel mehr geworden. Mehr Gewimmel. Das leere Abenteuerland, das wir in den späten 1980ern fast alleine für uns hatten, teile ich nun mit zehntausenden meiner Art. Wie Wasser. Wie Schnee. Nach gut 100 Kilometern erreiche ich Ludwigshafen, dessen kleine Bühne in einem Park uns als Übernachtungsplatz diente. Ein kleines Mädchen steht oben und singt unheimlich verzerrt ein Poplied auf englisch. Die Mama filmt. Der Bruder macht Faxen. Der Papa applaudiert. Mit einem Knicks und starallürischem Winken ruft sie Hello Berlin, Servus Wien und so weiter. Infiziert von DSDS oder Topmodel XYZ und all den vor dreißig Jahren noch undenkbaren TV-Formaten.

Bauer sucht Frau. Raus aus der Schuldenfalle. Mann Mann Mann.

Zwei Nächte im Zelt abseits des Sees.

Ich erreiche den Rhein wieder bei Stein am Rhein. Das Zentrum mit den bemerkenswert bemalten Häusern wurde in eine Theaterbühne umgebaut. Hunderte Sitzreihen mit Plastikstühlen stehen suf dem Marktplatz wie ein antikes Theater, viel Technik. Keine Vorführung am Nachmittag.

Nahe der deutschen Enklave Büsingen spricht mich ein Mann an. Über das Woher und Wohin und das Wetter mäandert das Gespräch zu brisanteren Themen. Ich könne doch in der Schweiz arbeiten, sagt er, als ich ihm erzähle von Frau SoSo und dass wir eine Fernbeziehung führen. Viele Deutsche arbeiten hier. Vor allem in der Pflege. Das will kein Schweizer machen. Die Bezahlung sei gut. Besser, als in Deutschland.

Wir brauchen zunehmend Pflegekräfte, sagt er und schaut an seinem alternden Körper herab.

Dass wir anders leben sollten, will ich ihm sagen, so dass Pflege im Alter überflüssig wird, will ich sagen, verwerfe aber den Gedanken, weil ich mir da selbst nicht sicher bin. Leben wir falsch und zahlen für unser gieriges Immerschnellerleben mit Siechtum und Bettlägrigkeit im Alter, frage ich mich.

Die entstandene Gesprächspause nutzt der Mann, um mir mit dem Satz, besser Deutsche, als Türken, lächelnd verbal einen Hieb in den Bauch zu versetzen. Zum Abschied.

Ein Herrenmensch im Belebungsbeckendes Rassismus.

Wasser. Ich geh mal duschen, sagt Frau SoSo. Achtzehn Radwegkilometer abseits des Flusses setzen-stellen-legen wir in ihrer Wohnung. Deponere. Wasser ist überall. In der Luft. Im Eimer vor dem Haus. In der Kaffeetasse auf dem Tisch. In uns. Wir sind Wasser. Wir atmen Wasser. Wir trinken es, scheiden es aus, stoffwechseln es. Es reinigt uns. Es kann uns vergiften oder retten. Ertränken kann es uns oder erfrischen. Kühlen, bedrohen. Wir beherrschen das Wasser. Es beherrscht uns. Die Dusche rauscht durch die halboffene Badezimmertür.

1988, als ich noch nicht schrieb, zeltete ich an einem norwegischen Fjällbach in der Nähe von Mo I Rana. Ein unkomfortabler Platz auf Moos und Gewächs. Stahlblauklare Luft. Kälte strömte sanft am Grund des Luftozeans. Aus dem feuchten Untergrund, der noch bis vor Kurzem gefroren war, stiegen Stechmücken aus der Nässe. Wie Antiregentropfen. Chitingepanzerte Flüssigkeiten, deren einzige Lebensaufgabe zu sein schien, Blut zu saugen. Beim Bächlein schöpfte ich Wasser für den Kocher. Eine faszinierend schillernd beleuchtete Zeit lang hockte ich da und bewunderte das Fließen, Murmeln und Plätschern, spielte mit dem Nass. Ich dachte über das Schreiben nach und dass ich diesen Moment eines Tages in Worte fassen würde. Wann und wo?

Dann, wenn die Zeit gekommen wäre. Dann, wenn die Worte für mich denkbar sein würden und ich in der Lage wäre, sie zu notieren. Dort wo ich dann gerade wäre. Irgendwo, wo auch Wasser ist. Vielleicht wäre eines der Moleküle, die ich beobachtete auch gerade da.

Der Waterframe war geboren.

2 thoughts on “Waterframe by Irli | #flussnoten


  1. Viel Stoff mal wieder, lieber Jürgen, über den es sich lohnt zu sinnieren. Ich kommentiere nur mal eins und das sind die RadlerInnen als Herrenmenschen, denn genau das denke ich manchmal, wenn sie zu Zweit oder zu Dritt nebeneinander kleine Straßen blockieren und absolut nicht willens sind dieser (Scheiß-)Autofahrerin Platz zu machen und wenn ich dann wirklich mal hupe, dann geht das Gezeter und Geschimpfe los.
    Es ist wohl noch ein sehr weiter Weg, bis wir uns in unserem Anderssein so nehmen wie und was wir sind: einfach nur unterschiedlich/anders … dazu passt natürlich auch dieser dumme Satz: lieber Deutscher, als Türke, es wäre noch interessant gewesen was genau er denn damit gemeint hat. Es gibt mehr als eine Denkart zu diesem Satz, fiel mir dann gestern später ein.
    Hier höre ich auf und wünsche dir und Soso noch einen herrlichen Abend und grüße sehr herzlich
    Ulli

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