Verabredungen und andere Zusammenkünfte | by Irli #flussnoten

All die Menschen rheinabwärts, die ich teils schon seit Jahren kenne, teils erst seit Kurzem, teils in ‚echt‘ und persönlich, teils nur per Mail oder übers Blog oder durch die Sozialen Medien, seit Basel twittere ich sie kurz bevor ich in ihrer Gegend bin an, maile ihnen oder rufe diejenigen, die ich näher kenne an. Wie wärs mit einem kleinen Plausch am Rhein, nen Kaffee, ein paar Worte, sich mal persönlich kennenlernen oder alte Freundschaften aufleben lassen? Manche luden mich ein, bei ihnen zu übernachten, andere traf ich mirnichts dirnichts und wir verbrachten ein paar zig Minuten und schwätzten. Ungefähr 15 mal habe ich Kontakt gesucht. Nur etwa ein Drittel davon führte zu einem Treffen. Die Treffen waren immer toll und nährend und gaben mir Mut und Kraft, weiterzuradeln.
Warum die Quote des Nichttreffens so hoch ist, ist natürlich klar. Wir leben in einer streng getakteten Welt. Jeder folgt seinem eigenen Fluss durch den Alltag. Die meisten Alltage bedeuten Arbeit, bedeuten, dass man irgendwo im Büro sitzt oder in einer Fabrik arbeitet oder die Kinder wo abholen muss oder sie irgendwohin bringen muss. Haushalt und kochen und leben und zuguterletzt auch Zeit für sich selbst haben, einfach mal Ruhe haben, tun ihr Übriges.

Das Leben des reisenden Europenners, der ich bin, schiebt sich an all den anderen Leben vorbei, manchmal nur um Millimeter. Wer weiß, vielleicht bin ich an der einen oder anderen Wohnung direkt vorbeigeradelt, oder jemand beäugte mich aus dem Bürofenster in der Hoffnung auf baldigen Feierabend. Auch mein Leben ist ziemlich getaktet. Klar habe ich Spielräume, aber ich muss vorankommen, schließlich kann ich nicht ewig am Rhein abwärts radeln und ich muss mir Zeit nehmen zum Schreiben, zum Fotografieren, alleine das Dreigestirn Radfahren um voranzukommen, Schreiben und Fotografieren ist schon ein komplexes Jonglage-Spiel, das sehr empfindlich ist. Jede Störung und Unterbrechung wirkt sich auf den feinen Flug der Bälle aus, die wenn möglich immer in der Luft sein sollten.

Vor vielen Jahren radelte ich jeden Tag zum Bahnhof zur Arbeit am Altersheim meines Großonkels vorbei. Jeden morgen sagte ich mir, abends nach der Arbeit gehe ich ihn besuchen. Abends war ich immer so erschöpft, dass ich direkt nach Hause radelte.

Der Onkel war sehr alt und krank. Und er starb, ohne dass ich ihn besucht hatte.

Ich hatte auch immer überlegt, seine Lebensgeschichte zu erfahren, sie vielleicht aufzuschreiben.

Unsere Alltage, ob Büro-, Fabrik-, oder sonst ein Menschenalltag schieben sich nunmal aneinander vorbei und kreuzen sich nur manchmal.

Eine meiner ältesten Internetfreundinnen lebt auch am Rhein. Ich hatte sie per Mail benachrichtigt, wann ich ungefähr in ihrer Gegend bin. Wir haben uns noch nie persönlich getroffen, obwohl wir schon seit über zehn Jahren mailen. Ihr Wochenende war schon mit einigen Terminen geplant und obwohl ich zwei Tage in der Gegend war, gab es kein Treffen, was wir beide sehr schade fanden. Uns kam zudem noch die Mittelrheinbarriere in die Quere. Auf 67 Kilometern gibt es zwischen Bingen und Koblenz keine einzige Brücke. Nur Fähren, die aber auch nur bis etwa zwanzig Uhr fahren. Nachts ist der Rhein unüberwindbar oder man muss über hundert Kilometer fahren, um auf die andere Seite zu kommen. Sie lebt auf der rechten Seite und ich radelte links. Dilemma. Wir mailten ein paarmal hin und her, wie wir uns doch noch treffen könnten und das böse Wort schlechtes Gewissen kam ins Spiel. Ihrerseits vor allem, denn sie hätte ja können ihren Alltag umrüsten und einen Termin sausen lassen. Aber auch ich hätte ja einen Tag Ruhepause einlegen können und warten. Die Passage mit dem Onkel hatte ich ursprünglich ihr gemailt, um zu verdeutlichen, wie komplex die Sache ist. Habe ich ein schlechtes Gewissen, den Onkel nicht mehr besucht zu haben? Nein. Es tat weh, aber ich weiß noch genau, wie erschöpft ich damals vom Mahlstrom meines Alltags war und ich ahne, wie der Besuch verlaufen wäre. Müde hätte ich in seinem Zimmer vor dem Bett gesessen und mein Kopf, meine Gedanken wären ganz woanders gewesen. Also habe ich deswegen kein schlechtes Gewissen.

Worauf ich hinaus will mit diesem Artikel?

Wir sollten uns nicht krummbiegen und irgendwas erzwingen und wir sollten versuchen, in unseren dahintreibenden Lebenswelten so gut wie möglich vor allem eins zu sein, im Einklang mit uns selbst, mit unserem Gefühl für das Jetzt. Konzentration auf wohlige Momente sozusagen. Die Gedanken mit den Worten ich sollte doch und hätte ich bloß, all die Konjunktivismen, sollten wir auf dem Altar der Gegenwart als Opfer bringen. Für ein Einssein mit dem gelebten Moment.

Ich bin überzeugt, dass all die zwei Drittel der Nichttreffen, die im Laufe der Flussnoten – eben nicht – stattgefunden haben, noch irgendwann wahr werden. Dann, wenn es die Alltagssphären zulassen.

4 thoughts on “Verabredungen und andere Zusammenkünfte | by Irli #flussnoten


  1. Toll.

    Aber daß Du den Konjuktivismus-Absatz mit einem Konjunktiv eröffnest, schiene mir sonderbar, wüßte ich nicht um die Imperative der Realitäten.


  2. Lieber Jürgen, du kannst dir kaum orstellen, wie gut mir gerade heute deine Worte tun: „Die Gedanken mit den Worten ich sollte doch und hätte ich bloß, all die Konjunktivismen, sollten wir auf dem Altar der Gegenwart als Opfer bringen. Für ein Einssein mit dem gelebten Moment.“ Ja, es hat immer Gründe warum und warum nicht. Ich bewundere dich dafür, dass du deinem Onkel gegenüber kein schlechtes Gewissen hast, deine Haltung spricht für sich, da kann ich lernen. Danke und einen guten Radeltag wünscht dir von Herzen
    Ulli

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