Direkt am Rhein. In Nierstein. Hinter mir die B9. Lärm und Gestank und winzige Schulkinder, die wie Mäuse auf der Flucht vor Katzen über die Zebrastreifen huschen. Links-rechts-links und nochmal links-rechts-links blickend. Ein vielleicht siebenjähriger Junge trägt einen Helm. Zum Gehen.Schiffe auf und ab. Wellen klatschen gegen die Uferbefestigung. Wie Ohrfeigen. Nein, das trifft es nicht: wie Wellen.
Da ich mal in der Gegend gewohnt habe, überrollen mich Erinnerungen. War da nicht eine Lücke zwischen Dienheim und Oppenheim? Nun mündet das Wohngebiet der Saarstraße bis zu den Oppenheimer Supermärkten. Rewe hat Gesellschaft von Lidl und NKD und ich glaube, ein Aldi ist auch gewachsen.
Die gestrige, hitzige Etappe führte durch Ludwigshafen und Worms. Vom Radwegfeeling zwei völlig verschiedene Welten. In Ludwigshafen leitet einen die durchweg gute Beschilderung um die Stadt herum. In zahlreichen Schlenkern und Unterführungen, durchweg autoarm. Krönung der Passage ist der Maudachbruch, der vorbei an Gartenstadt durch ein verwunschenes Waldgebiet führt. Später über abgeerntete Felder vorbei an BASF kommt Endzeitstimmung auf. Die Stadt wäre die ideale Kulisse für einen Steampunk-Fantasy-Endzeitfilm. Romantik und Schmutz dicht an dicht.
Treffen mit Twitterfreundin @fraumitfacetten und ihren beiden Kindern. Wir saßen am Rhein und hielten ein Schwätzchen und seither fabuliert das Töchterlein von einer Zelt-Radtour mit der Mama. Was hab ich angerichtet. Durch schlichtes Sein.
Worms hingegen. Drei Feuerwehrautos durchlärmen die Stadt, rasen mit Affenzahn in eine Kreuzung. Der letzte Löschlaster kann gerade noch so einer Schleuderkatastrophe entgehen. Die Menschen an der Fußgängerampel mir gegenüber, die sich wie ich die Ohren zuhielten, wären bei einem Crash vermutlich alle gestorben.
Über schmalste Radwege verirrte ich mich Richtung Osthofen. Entlang der Hauptverkehrsstraße. Die Wormser Ragwege haben die Breite eines mathematischen Punkts, galgenhumore ich auf Twitter.
Vielleicht eine Stunde irrte ich umher durch Wohngebiete und Industrie und Gewerbe, horizontales inklusive. Erotik prankt ein riesiger Hinweis über einem Haus im Industriegebiet. Gegenüber in einem Café ruhte ich mich aus und man erklärte mir den Weg zum Rheinradweg. Ein hässliches Stück Radweg. Überall LKW, wartende Fahrer. Einer hatte Gesellschaft von einer Nutte, die zwischen seinen Beinen kniete. Die Tür der Fahrerkabine war offen. Grotesk wirkte der hellblaue Jogginganzug, den er trug. Ich hab nicht so genau hingeschaut. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, dachte ich. Dennoch. Der erste Blick trügt nie. Ist es das, was ich denke? Es ist.
Raus aus Worms und rauf nach Rheinhessen zu Bloggerfreundin Wildgans (Frau SoSo verlinkte im vorigen Beitrag).
Nach Bechtheim führt ein toller Radweg vorbei an einer Schwefelquelle hinauf, der vor Dittelsheim-Heßloch endet. Ich im Feierabendverkehr. Wind und Wetterwechsel. Die Windräder liefen auf Hochtouren. Unten am Rhein die vier Kühltürme des Kernkraftwerks Biblis. Was für ein Wandel in den letzten zwanzig Jahren.
Die Starenschreckschüsse in den Weinbergen sind wie eh und je. Und die Vogelschwärme auf den abgeernteten Feldern. Die Luft scheint dreckiger. Alles Endzeit. Heute, da ich ein Stück weitergeradelt bin durch die Gegend von früher, strotzend von guten und schlechten Erinnerungen, bin ich ziemlich zerrüttet, sitze geschwächt auf einer Parkbank unweit des Niersteiner Bahnhofs. Wie so eine Handpuppe, die mit Bauchrednerstimme plappert. Ich muss mich nach Mainz schleppen zehn zwanzig Kilometer weit, muss das hinter mir lassen, diese Wehmut, die Gefühle, die Erinnerung an ein längst vergangenes anderes Ich. Da bei der Tankstelle an der B9 saß das andere Ich 1992 mit dem Berber-Django. Auf dem Radweg war das andere Ich ihm begegnet und man schwätzte ein bisschen und kaufte Bier in der Tanke und der Berber-Django holte einen kopierten Zeitungsartikel über sein Leben hervor und er erzählte Geschichten von Angst und Alleinesein und dass man niemandem trauen könne in der Welt. Drüben auf der anderen Rheinseite habe er sein Zelt aufgeschlagen und sein Geld versteckt, achthundert Mark. In dem Artikel erfuhr ich, dass er mal einen toten Tippelbruder gefunden hatte und daher kam es überhaupt zu dem Artikel, der doch nur ein Flicken im Sommerloch war. Er und sein voll gepacktes Rad waren abgebildet und als er meinen Schlafsack sah, einen unheimlich warmen, der einen wie ihn über den Winter retten könnte, wollte er ihn unbedingt haben. Er bettelte und flehte und weinte und ich schenkte ihn ihm trotzdem nicht. Mein heutiges Ich kann das gar nicht verstehen. Es schämt sich ein bisschen. Karl Heinz Müller aus Saarbrücken, so hieß der Berber-Django. Ob er noch lebt? Ob er erfroren ist? Der Artikel liegt bei mir zu Hause in einer Kiste voller Zettel.
Nun schweigend schreibend am Fluss im Anblick all der Ichs, die ich einmal war.
Ohne diese anderen Ichs, wird mir klar, wäre ich aber nicht das Ich, das ich jetzt bin.