Vor zwei Jahren zeigte ich in meinem Atelier eine Ausstellung, deren Kern eine etwa sechs Meter breite Bildinstallation war mit 350 polaroidgroßen Bildern aus vielen Jahren Smartphonefotografie. Schwerpunkt der Ausstellung war meine live gebloggte Umrundung der Nordsee per Fahrrad. Flankiert wurde die Fotoinstallation von größeren Ausbelichtungen ausgewählter Szenen auf Leinwand und Dibond. Mein Neffe, gerade zwölfjährig, wollte damals unbedingt Youtuber werden und hatte sich einen Account angelegt, auf dem er seine Lets-Plays zeigte, seine Kaninchen und alles, was einen Jungen in seinem Alter so interessiert. Ich schlug ihm vor, einen Clip über die Ausstellung zu machen, in dem er seine Eindrücke schildert. So ließ ich ihn alleine durch die unkommentierte Bilderflut streifen und er filmte und sprach seine Eindrücke ins Mikro. Ich selbst saß draußen auf der Südterrasse vor dem Atelier und trank Kaffee.
Plötzlich wurde es laut. Völlig überfordert sprach er hektisch ins Mikro, ich versteh das nicht, ich versteh das nicht, hilflose Kommentare zu den einzelnen teilweise ziemlich schrägen Motiven.
Der Film wurde nie veröffentlicht.
Mit einem Schlag wurde mir klar, was die Kunst mit uns Menschen anrichtet, was das Unbekannte, nie Gesehene mit einem anrichten kann. Ich erinnerte mich an meine ersten Begegnungen mit Kunst, zum Beispiel im Kahnweilermuseum in Rockenhausen. Wie alt war ich damals, vielleicht auch so zwölf, dreizehn. Auf einem Sockel hatte jemand ein blaues Stück Plastikfolie drappiert und ein Preisschild war daneben. 3000 DM sollte das Objekt kosten. Ich schüttelte den Kopf und ich weiß noch, wie wir uns lustig machten über die Plastiktüte für 3000 Mark. Was wohl aus dem Künstler geworden ist? Ob das Objekt je einen Sammler gefunden hat?
Das Wispertal ist ein kleines Seitental rechts des Rheins, das bei Lorch mündet. Jemand hatte mir erzählt, dass es sehr schön sei, da hinauf zu radeln und man gelange irgendwann zur Wasserscheide der Lahn, von wo man wieder abwärts radeln könne und bei Koblenz zurück zum Fluss.
Mein alter Freund und Künstlerkollege Sascha hatte schon im Februar zu einem Fest geladen, das in Espenschied ober der Wisper in einer alten Villa stattfinden sollte. Das Fest stand unter dem Motto, ‚Was tun?‘ Irritierender Titel. Ich verstand aber, es geht um den Zustand der Welt und wie es weitergehen könne in all dem global-privat-konglomerierenden Hickhack dieser Tage. Ich schrieb ihm, dass ich vorbeikomme, falls es meine Wege erlauben und baute das Treffen unterbewusst in die Flussnotentour ein.
Vorgestern ächzte ich also hinauf nach Espenschied, verdammt harter Anstieg auf über 400 Meter Höhe, aber das schmale, kaum befahrene Tal lohnt sich. Schiefer, Verwitterung, alte Villen, die Kurgegend rings um Schlangenbad par excellence (Lakritze, falls Du das liest, schau mal nach dem Wispersteig, kennste den?). Viele Objekte zu verkaufen, leise rieselt der Bach, nur ab und zu gestört von wuchtigen Motorradkolonnen, die auf dem Sträßchen ihren Besitzern den Kick gaben.
Fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Völlig erschöpft kam ich auf das Fest, auf dem ich nur zwei Leute kannte, bei manchen argwöhnte, dass ich sie womöglich kenne, mich nicht erinnerte, all die Jahre, ach all die Jahre, wo sind sie hin?
Die Zusammenkunft entpuppte sich als eine Art Barcamp in Kombination mit Geburtstagsfeier. Die Gäste machten Vorträge, jeder war eingeladen, frei nach Lust, etwas zu zeigen. Beamer und Internetanschluss, Seminarraum, perfekte Infrastruktur.
Das Better Think Tank Projekt wurde vorgestellt (bitte googeln, es gibt dazu Filme und Infos aus Youtube, ich kann das jetzt unterwegs nicht aus dem lahmen Edge-Netz recherchieren).
So wurde ich konfrontiert mit dem Begriff Thinktank, den ich erst einige Jahre zuvor erstmals gehört hatte, als mein Freund QQlka auf die vier stählernen Wasserfässer vor meinem Atelier deutete und sagte, hey, Du hast ja hier Thinktanks stehen.
Zeit, das Wissen über Thinktanks zu vertiefen. Dass es marktliberale, salopp gesagt, seilschaftsbildende Menschenzusammenschlüsse sind, die darauf abzielen, wichtige Posten in Politik und Wirtschaft zu besetzen, lernte ich und es gab auch einen Ausflug in die moderne Piraterie. Noch nie habe ich von den Radiopiratenschiffen gehört, die zum Ziel hatten, den britischen BBC zu zerschlagen. Auch eine Schweizer Abstimmung, die den Schweizer Rundfunk abschaffen will in einer Art Volksabstimmungspiraterie kam zur Sprache.
Das müsst ihr nicht verstehen. Ich habe auch nicht allzuviel verstanden, was an dem Abend geschah. Die Wucht all des Wissens, der Ideen, der Fremdwörter. Bin ich hier am Ende selbst in einem Thinktank gelandet? Vielleicht fühlte es sich so an für meinen Neffen, als er vor zwei Jahren, noch ungeprägt und unbedarft, durch die Ausstellung irrte?
Ist es nicht immer so? Ich hatte ihm geraten, versuche gar nicht erst, es zu verstehen, es war ein langer Weg für mich bis hierher und du wirst deinen eigenen langen Weg gehen, an dessen Spitze du immer verstehst und du wirst dich vielleicht wundern, dass diejenigen, die dir begegnen und nicht den gleichen Weg gegangen sind, irritiert sind. So wie ich. So wie die, denen ich begegne.
Meine Herangehensweise an Kunst und andere unheimliche Dinge hat sich in den Jahrzehnten auf eine einfache Formel reduziert: Versuche nicht, es zu verstehen. Lass es wirken. Sobald du verstehen willst, was du (noch) nicht verstehen kannst, erzeugst du eine ungeheure Kraft, die in Minderwertigkeitsgefühlen endet.
Dergestalt balancierte ich bei dem Treffen, das gleichsam ein Intermezzo in den Flussnoten ist, stets an der gemeinen Grenze des eigenen Intellekts. Fasziniert, irritiert, genießend.
Hier ein paar Links:
Ralf Homann und Manuela Unverdorben stellten das BTTP vor.
Hier gehts ins Metalabor, sozusagen Schirmherr der Zusammenkunft.
Die Ausstellung im Rahmen der Offenen Ateliers 2014, über die mein Neffe nie berichtete, findet sich hier.
Einen Youtube-Link vom Aufbau der Polaroid-Installation gibt es hier.
Und über die Reise auf dem Nordseeradweg erfahrt Ihr hier mehr.
Und nun auf in die neue Woche, meine Lieben, stets balancierend an der harten Grenze des eigenen Intellekts.
(Wispersteig: schon gegangen. Und ja, wunderschön; und ein gutes Gasthaus wüßte ich da.)
„Sobald du verstehen willst, was du (noch) nicht verstehen kannst, erzeugst du eine ungeheure Kraft, die in Minderwertigkeitsgefühlen endet.“ Das ist der Satz, der reif für meinen Zettelkasten ist, merci vielmals … und ja Wispersteig … wunderschön!!!
Am Sonntag habe ich Mützenfalterin besucht, auch wir kamen zu dem Schluss, dass es gar nicht so einfach ist neue Gedanken und Ideen in die Welt zu tragen … wir stossen immer wieder an die Grenzen der Altvorderen und an die eigenen … leider. Aber ich denke auch, es geht ums Tun, soll heissen, genug der Analysen, es ist Zeit alle unsere progressiven Ideen hinaus aus dem kopf ins Leben zu bringen, soweit es jede und jeder vermag- nein, ich muss nicht alles verstehen!
herzlichst
Ulli