Wenn man den Blick nur auf eine punkthohe Ebene schärfen würde und sich eine Kugel aus der Ebene erheben würde, so würde man sie als einen größer und größer und größer werdenden Kreis wahrnehmen, bis die Kugel an ihrem größten Umfang die Ebene durchdringt. Dann würde der Kreis kleiner und kleiner und kleiner, bis er plötzlich ganz verschwindet. So lehrt es Edwin A. Abbott in seinem Buch Flächenland. Die Wesen in dem Buch sehen nur zwei Dimensionen. Das Erscheinen einer dreidimensionalen Kugel nehmen sie als unerklärliches Phänomen wahr.
Flachland. Radland. Wandeln auf dem Deich. Seit zwei Tagen bin ich in Holland. Die Grenze muss ich irgendwo, vielleicht an der Kante eines Maisfelds überschritten haben. Plötzlich waren die Hinweisschilder, man solle die Hunde anleinen, in einer anderen Sprache, in einer anderen Farbe und auch die Radwege auf dem Deich änderten den Belag. Herrliches Vorankommen. Die Deiche am Waal, wie der Rhein ab etwa der niederländischen Grenze heißt, führen im Zick-Zack durch Wiesen. Kreuzen gegen den Wind. Unendlich weiter Blick. Weiden und Pappeln, Kuhherden, die bis zum Rhein laufen können, um dort Wasser zu trinken. Alle paar Kilometer erhebt sich eine imposante, lange, hohe Brücke. Kaum Industrie. Stacheldraht. Gehöfte und Klinkerbauten, manchmal eine Ziegelei und überall laufen, radeln, inlineskaten Menschen auf den fein geteerten Wegen. Wochenende. Die Cafés sind übervoll. Am Ufer sitzen Angler. Vor einem Restaurant verweile ich. Man singt im Chor mit fremden Zungen die Meldoie von Lilli Marleen. Fast fühle ich mich an die Irlandfähre vor zig Jahren erinnert. Die Menschen begannen unvermittelt zu singen, als das Schiff den irischen Hafen anlief. Herzerwärmend, rührig, melancholisch.
Ich kann nur drei Worte Niederländisch: Fiets, Huie Daag und Dankewell. Fahrad, Guten Tag und Vielen Dank. Unsicher erforsche ich das neue Land, von dem ich noch nicht weiß, wie es tickt. Spreche ich die Leute direkt auf deutsch an? Oder doch lieber englisch? Man muss sensibel vorgehen. Am Anfang ist immer das Huie Daag, was mir meist einen holländischen Wortschwall einbringt und ich dann sofort die Karten auf den Tisch legen muss, sorry, ich verstehe kein Wort. Deutsch oder Englisch? Vor vier Jahren habe ich die deutschen Touristen an der Küste erlebt, wie sie hemmungslos direkt auf Deutsch drauflosredeten. Ich mochte das nicht. Diese Sebstverständlichkeit. Und in den Gesichtern der holländischen Gegenübers las ich auch oft ein freundlich reserviertes Etwas, das, in Restaurants, dem Kunden gegenüber diese Plumpheit verzieh.
Also taste ich mich sprachmischend heran an das fremde Land. Manchmal geht englisch, manchmal deutsch und manchmal, dass jeder in seiner Sprache redet.
Das Radwegenetz ist auch ein etwas anderes Ding. Jedes Land hat sein Konzept und man muss es erst einmal lernen. Das niederländische System besteht aus Knotenpunkten, die mit Nummern versehen sind. An den Knotenpunkten stehen meist Tafeln, auf denen die jeweilige Region abgebildet ist. Man muss sich seine Strecke heraussuchen und anhand der Pfosten, die überall am Weg stehen und zu den jeweiligen Knoten weisen, navigieren. Die Radwege sind ruhige Deichstraßen, auf denen auch Autos und Motorräder fahren, oder neben Hauptstraßen geführte eigene Fahrradwege, oft sechs Meter breit. Wahre Fahrradautobahnen. Leichtlaufteer.
Supermärkte muss ich auch lernen und die darin verkauften Lebensmittel. Sind in Deutschland und Frankreich die Läden meist vor den Toren der Siedlungen in Gewerbegebieten, muss ich hier offenbar in die Wohngebiete radeln. Mit Fiets, Huie Daag, Dankewell und Supermarkt, frage ich mich durch. Eine Frau sagt, komm mit und legt einen forschen Ritt zu Tage mit ihrem Hollandrad, führt mich einige Kilometer, während ich das Knotensystem lobe und ihr erzähle, wie toll ich es hier finde. Dann weist sie mit einem Nicken an einer Kreuzung hinüber in ein Dorf, da lang und verabschiedet sich. Ein Coop tut sich auf, wo ich ihn nie vermutet hätte. Lebensmittelforschen mit Brille vor ungewohnten Dingen. Seltsame Paste mit Ei obendrauf, die kaufe ich. Ist es Kuh oder Thunfisch oder vegetarisch? Ich weiß es nicht. Selbstversuche an der Supermarktkasse.
Auch den Rhein muss ich lernen. Lek und Waal heißen zwei Hauptarme und dort wo die Maas in den Waal mündet, ändert sich der Name wieder. Es gibt so viele Wasserstraßen. Unzählige Fähren. Die Holländer kennen wohl mehr Worte für Rhein, als die Eskimos für Schnee, scherze ich mit mir selbst.
Ich radele schnell. Regen droht. Für gestern nachmittag war er angesagt, also kurbele ich ordentlich drauflos und komme trotzdem nur langsam voran. Der Wind und immerwiedere Fotostops tun ihr übriges. Mein Hirn steht längst am Meer und die Reise ist zu Ende. Muss das sein? Diese Hetze? War es nicht immer so, das Ziel in Blickweite, am Nordkap und in Gibraltar? Du wolltest vorankommen und eine gewisse Reiseendhektik schlich sich ein.
Mein Plan, die Rheinmündung gestern zu erreichen, scheiterte kläglich. Das GPS zeigte morgens 92 Kilometer Luftlinie bei Zick-Zack-Deich und viel Sehenswertem und der Regen drohte. Wolken zogen auf. Der Wind starkte und ich wurde schwächer. Plötzlich grauer Himmel. Die Wege wie leergefegt. Ich alleine, verirre mich, radele Umwege. In Gronichem weisen die Radwegeschilder zu den Fährstationen für die Knotenpunkte auf der anderen Seite, da vorne liegt ein großes Schiff, gleich legt es ab und so lande ich hektisch nichts hinterfragend auf der Fähre zu Punkt 32 statt der kleinen, die dahinter liegt und zu meinem gewünschten Punkt 31 führen würde. Hat sich je ein Mensch auf einer Fähre verirrt? Ich schon.
Fünf Kiometer weit zurück. Erster Regen in Sicht, knappe halbe Stunde von Punkt 32 zu 31, den ich eigentlich erreichen wollte. In Werkendam nehme ich erneut eine Fähre, nicht ohne vorher zu erkunden, ob sie auch dahin fährt, wo ich hinwill. Zwei weitere Radler an Bord suchen für mich per Websuche einige Minicampings heraus, auf denen ich unterkommen kann. Slingeland sei schön, etwa zehn Kilometer. Ich soll mich beeilen, es wird bald regnen. Das war Rheinüberquerung Nummer 39 seit der Quelle.
Auf nach Slingeland, der Campingempfehlung. Laut Karte ist es nur wenige Kilometer von Gronichem entfernt. Ich wäre mittags, als ich falsch fuhr, in zwanzig Minuten dagewesen. Der Regen verschont mich nicht. Klatschnass irre ich durch die Sträßchen und finde den Minicamping auf einer Farm auf Umwegen. Aufenthaltsraum mit Sofas, riecht verschimmelt. Sehr sauberes Waschhaus. 13 Euro kostet die Übernachtung. Da war der Camping vom Vortag mit nur vier Euro wohl ein Ausreißer?
Die Wohnwagennachbarin lädt mich zum Tee ein und erzählt mir von den Kindermohlen, neunzehn alte Windmühlen, die Wasserpumpen antreiben, ein Weltkulturerbe. Viele Menschen aus Fernost seien da unterwegs, um das typische Holland zu erleben. Bei Tee und langsam sickernder Ruhe denke ich mir plötzlich, dass es wohl einen Sinn hatte, dass ich an diesem Tag so sehr umherirre. Meine geplante Route hätte zwar auch am Kinderdijk vorbeigeführt, aber ich wäre erst abends und erschöpft und hektisch und lustlos im Regen dort eingelaufen. Wer weiß, vielleicht habe ich ja im Umherirren so eine Art vierte Dimension durchlaufen, ein Fraktal, das ich eigentlich gar nicht wahrnehmen kann mit meiner engen, dreidimensional voranpreschenden Sicht. Fast wie der Flächenmann, der sich über das Erscheinen der wachsenden und schwindenden Kreise wundert.
Nun sind es noch etwa 60 Kilometer Luftlinie bis zur Nordsee. Es sieht nicht nach Regen aus und es herrscht fast Windstille.
Vielleicht schaffe ich es heute?
Der Zeltnachbar kommt herüber und reicht drei Äpfel.
Dankewell.
Was heißt wohl Äpfel auf Holländisch?
Klasse Text, ein Wortgemälde aus Landschaft, Luft und Menschen, aus Gerüchen und Geräuschen. Dein Schreiben erreicht zuweilen eine fünfte Dimension.
Ich freu mich aufs Finale!
Appel vielleicht. Birne heißt Peer.
Tatsächlich kann man in Holland in tiefe Fettnäpfchen treten, wenn man gleich mal auf Deutsch losplappert, weil manche davon ausgehen, dass alle NiederländerInnen auch deutsch könnten. Nein, ich mag das auch gar nicht, schäme mich fremd, wenn ich dies in anderen Ländern beobachte bzw. höre. Aber du machst es ja goldrichtig- lach.
Über deine Verirrungen und Wirrungen am Ende deiner Reise schmunzel ich ebenfalls, als hätte dich „etwas“ ausgebremst, bei deinem plötzlichem Gasgeben.
Nun bin ich gespannt wie es dir heute ergehen wird und wann du nun wirklich die Nordsee erreichen wirst und wie der Rhein dann heissen wird.
Ich denke an Vanillefla und Erdnusssosse und Lakritze, alles so herrliche niederländische Naschereien und nicht besonders gesund ;o)
herzliche Grüsse
Ulli
Ich hab festgestellt, dass zumindest in der bereisten Region, Englisch besser ankommt. Und auch besser verstanden wird.
Dankewell für den schönen Text. Ich wünsche dir viel Rückenwind für deine Etappe an die Nordsee.
Heute habe ich deine iDogma-Karte #Flussnoten Nr. 41 im Briefkasten vorgefunden und bevor ich den Absender sah, gedacht, dass das jemand sein muss, der mich gut sehr kennt. Für mich als grosser Hundefan, hast du intuitiv mitten ins Schwarze getroffen und so hängt nun beim mir beim Eingang ein süss dreinblickender Hund, welcher auf sein Leckerli in Eisform hofft. Riesenfreude 🙂 Herzlichen Dank für den goldigen Postkartengruss von unterwegs.
P.S. Der Hund-vor-Supermarkt-Fotograf hat just in der richtigen Sekunde auf den Auslöser gedrückt.
Danke liebe Filomena. Das freut mich jetzt sehr, dieser Treffer ins Schwarze.
Oh! Allein für das Wort Fährirrungen hat sich’s gelohnt. Ich wünsche Rückenwind!
Was, Du scherzest mit dir selbst??? Oi, oi. Wie schee…
Eine Mitfieberfahrabenteurerin
Die Kunst des Selbstscherzens, so wichtig.