Sechzehn Jahre Knast zwischen Wissembourg und Lauterbourg | by Irli #flussnoten

Oh, Ziegen, wie süß, kleine, putzige, baune, beige, schwarze Ziegen, mal auch ein bisschen gescheckt. In einem hundert Meter langen und vielleicht zwanzig Meter breiten Pferch blöken die Viecher. Ein Mann und eine Frau stehen davor und reichen ihnen Gras durchs Gitter.Das sind Kamerunschafe, sagt die Frau, sie habe sie auch zuerst für Ziegen gehalten. Aber kann ja nicht sein, die Obst- und Nussbäume in dem Gelände sind unbeschadet, die Tiere klettern also nicht hoch, wie das Ziegen tun würden, knabbern nicht an der Rinde. Die Herde wirkt interessiert und blökt.

Der Römerberg, südlich von Speyer ist ein flaches, belandwirtschaftetes Hochgelände, deutlich aber als Berg auszumachen, wenn man vom Rheindamm über die Feldwege heraufkraxelt und sich nach einem Lagerplatz zwischen Mais und Abgeerntetem sucht. Überall flanieren Radler und Hundegassigänger, hie und da spült es abends ein Auto aus einem der Obstgrundstücke,der Besitzer nach einem Gartentag auf dem Weg nach Hause.

Wie wohl so eine Rheinreise vor anderthalb Jahrhunderten ausgesehen haben mag? Zu Hochzeiten der Rheinromantik? Als man den Fluss besang und sich Geschichten und Sagen rankten und man seine wilde Schönheit in Gemälde, Gedichte, Musikstücke fasste? Wieviel anders als jetzt, da ich dem Fluss zu Leibe Rücke. Per Fahrrad auf bestausgebauten Radwegen, umgarnt von Straßen, hochenergieeffizienten Wohngebieten, Getaktetem Menschenleben, das Kernkraftwerk Pfillipsburg leuchtete heute Nacht im Südosten hinter den Maiswipfeln. Ein braunblutroter Vollmond sank rheinromantisch im Westen. Im Himmel brummten Flugzeuge.

Vor anderthalb Jahrhunderten gab es noch keine Flugzeuge, keine Kraftwerke, weniger Straßen. War das Fahrrad schon erfunden?

Die großen Rheinromantiker reisten per Postkutsche und per Schiff und sie konzentrierten ihre gefühlsduselige Romantisierung vermutlich auf das wilde Mittelrheintal, das mir noch bevorsteht, vielleicht auch auf die Rheinschlucht und die Via Mala an den beiden Quellflüssen in der Schweiz. Sie hatten keine Handys, mit denen sie mit der Welt in Echtzeit kommunizieren konnten. Kein Blog, kein Twitter. Alles, was sie malten, schrieben und komponierten über ihre Erlebnisse am großen deutschen Fluss, mussten sie auf Papier festhalten und es später in Buchform bringen. Da war nicht einfach, och, ich packe mal meine Bluetoothtastatur aus und hacke eben schnell ein paar Morgengedanken in die Tasten, Knopftdruck und ab ins Netz und die da draussen können das dann lesen. Wenn sie wollen.

Vermutlich hatten die antiken Rheinromantiker eine Schreibfeder und Tinte dabei. Papier und vielleicht hatten sie sogar einen Sekretär, dem sie diktieren konnten. Das Bluetooth der guten alten Zeit sozusagen. Ich stelle mir vor, wie sie mit großen, alten Holzkoffern in der Postkutsche reisten und irgendwo ein Schiff bestiegen, um das Abenteuer Fluss zu wagen.

An einem Kiosk kauften sie sich vielleicht eine Zeitung, in der sie sich über das Weltgeschehen informierten: Der Kaiser hat Sansibar kolonialisiert. Die Briten fochten ein Scharmützel auf offener See irgendwo am Kap soundso, die kaiserliche Marine konnte mit Ruhm das Reich verteidigen. Oder auch alltägliches lokales über eine Markedenderin, die durch Trickbetrügereien Rheintouristen um ihre Goldmünzen brachte, könnte in der Zeitung von damals zu lesen gewesen sein.

Wieviel exponentieller ist doch die heutige Zeit! In Echtzeit prasseln Nachrichten auf mich ein, flimmern in Kurzbotschaften über den handtellergroßen Smartphone- Bildschirm, der mir zugleich Informationsquelle und Publikationsinstrument ist, auch Malpinsel, wenn man so will, denn ich kleiner, selbstgebastelter Rheinromantiker 4.0 bin nicht einfach nur ein Rheinbuchschreiber, sondern auch ein Maler, male mit digitalen Fotos am großen Bild. Und auch komponieren könnte ich, wenn ich wollte.

Sechzehn Jahre Haft für einen deutschen Pensionär, lese ich in einem TAZ-Artikel. Der Mann hat acht Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland geschmuggelt und wurde erwischt. Sechzehn Jahre für Schleuserei? Ist das nicht ein bisschen viel, fragte ich mich. Hierzulande spazieren Mörder bei guter Führung nach zwölf Jahren wieder aus dem Knast. Irgendwo am idyllischen Radweg zwischen Wissembourg und Lauterbourg war ich, verbunden über das Internet unmittelbar in seine Misere eingebunden. Dieses Menschenschicksal. Der Mann ist 69 Jahre alt, las ich. In dem Alter sind sechzehn Jahre wie lebenslänglich. Der Artikel berührte mich sehr, zudem es Zweifel an der Schuld des Mannes gab. Auch wie das Verfahren gelaufen ist, lässt einem die Haare zu Berge stehen: Per Google-Übersetzer wurden seine Aussagen ins Griechische übersetzt. Da werden Erinnerungen an Monty Pythons Szene über den Ungarisch-Englisch-Übersetzer wach, der in einem Übersetzungsbuch die Phrase: Wo bitteschön geht es zum Bahnhof, salopp mit Würden Sie mir bitte zärtlich den Popo streicheln übersetzte.

Es ging mir garnicht gut auf der Strecke zwischen Weißenburg (so Wissembourgs deutscher Name) und Lauterburg. Das Einzelschicksal hatte sich in meinen Hirnwindungen festgesetzt und während ich vor mich hinkurbelte auf dem feinen Radweg entlang der Lauter, saß ich gewissermaßen auch im Knast, gemeinsam mit dem Mann, den ich doch gar nicht kannte. Ich weiß nicht, ob er schuldig ist, das blieb auch in dem Artikel offen. Zwischen ‚Er hat für 2500 € pro Person die Leute rübergefahren‘ und ‚Er wurde von seinen türkischen Freunden einfach als dummes Opfer missbraucht und nicht er, sondern die haben das Fluchtgeld kassiert‘, ist eigentlich alles drin. Ich stellte mir vor, wie ich 69-jährig meinen Lebenstraum erfülle und auf einem Schiff durch die Ägäis kreuze, alles, ist schön eingerichtet, meine Frau und ich sind gesund und haben ein schönes Leben und plötzlich finde ich mich wegen solch einer Sache in einem griechischen Knast wieder und muss mit den Mühlen der Gesetzgebung kämpfen, der Bürokratie, vielleicht sogar – zwischen Griechen und Deutschen herrscht ja wegen der Finanzkrise ein gewisser eisiger Umgang – bin ich nur weil ich Deutscher bin und dem Richter nunmal die Deutschen in ihrer Gesamtheit, so wie sie sich den Griechen in ihrer Gesamtheit gegenüber benommen haben, unter die Räder gekommen?

Voller trübsinniger Gedanken erreiche ich den Rhein bei der Lautermündung. Leise ergibt sich der kleine Fluss in den großen. Als wäre mein Fahrrad eine Mühle, habe ich auf den letzten sechzehn Kilometern Gedanken von Ohnmacht und über Willkür und unsinnige ungerechte Strafmaße gemahlen, feiner Staub in der Künstlerseele.

Es ist heiß. Eine Staubexplosion droht. Ich könnte die ganze Mühle in die Luft jagen, wenn ich nicht aufpasse. Ein kleiner Bootshafen liegt in der Mündung. Ein Rheinmuseum ist ausgeschildert. Vermutlich befindet es sich auf dem Schiff, in dem auch ein Restaurant ist. Viele Menschen fliehen vor der Hitze unter die Schirme des Biergartens an Land. Das Schiff heißt Lautermuschel. Ich starre in den großen Strom. Wenn es doch so einfach wäre, und ich könnte den ganzen Gedankenmüll in den Rhein kippen. Den Fischen zum Fraß. Soll ich ein Bier trinken? Das würde mich bei der Hitze völlig aus den Socken hauen.

Also schleppe ich mich weiter auf der Rheinroute Richtung Wörth, Jockgrim, meist am Rheindamm auf gut geteertem Weg. Unter einem Nussbaum mache ich Mittagspause, schlafe auf einer Bank ein. Das hilft.

Der Schlaf hat das Hirn gereinigt. Ich lasse diesen, meinen Knastfall los. Ergebe mich dem Nichts der Reise, der leeren, weißen Platte, auf die Neues geschrieben werden soll.

Speyer im Visier, Erinnerung an meine Pilgerwanderung 2011, die Pfalz, den Wald, die leeren Wege.

Nun, auf dem Römerberg, tippe ich diese Zeilen. Die Kamerunschafe beobachten mich, blöken, Käuen, suchen Schatten. Es ist gerade mal halb neun. Der Tag wird heiß. Die Mühle steht fahrbereit. Ich trinke Kaffee. Die Finger kleben. Das Zelt trocknet. Bloß nicht daran denken, wie mein Knastbruder in Griechenland gerade erwachen muss, das mutmaßliche Fehlurteil im Nacken.

Gerade werde ich beim Wildzelten erwischt.

Hier der Link zum TAZ-Artikel.

2 thoughts on “Sechzehn Jahre Knast zwischen Wissembourg und Lauterbourg | by Irli #flussnoten


  1. Hej Jürgen,
    eins fällt mir ein, dass es Zurzeit irgendwo am Rhein in einer Stadt eine Ausstellung zum Rhein und den Reisenden, den Dichtern und Malern gibt, aber bitte frag mich jetzt nicht wo- habs im Radio gehört …
    und zwei: es werden an den falschen Stellen Exempel statuiert, dein Mitfühlen ist wohltuend!
    gute Reise weiterhin
    herzlichst
    Ulli

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