Ein Ohrwurm hat sich ins Zelt verirrt. Über Hände und Tastatur schlängelt er sich unter die Isomatte auf der Suche nach einem Ausweg. Das Fliegennetz steht offen. Kühle Nachtluft spielt ein. Der Rhein fließt gerade mal dreißig Meter vom Zelt entfernt durch die bleischwere Nacht. Selten ein Schiff, manchmal ein LKW auf dieser oder jener Seite des engen Mittelrheintals, öfter schon ziehen Güterzüge, ebenfalls auf dieser und jener Seite des Flusses. Es gibt zwei Hauptstraßen und zwei Bahntrassen und die Wasserstraße und den Radweg hier und den Radweg dort. Rechtsrheinisch ist der Radweg schlechter ausgebaut, als hier auf meiner Seite des Flusses. Das konnte ich auf einer Infotafel am südlichen Ende des Tals bei Bingen lesen. Als verschiedenfarbige Linien waren die Radwegteilstücke eingezeichnet. Eine Farbe für Radweg solo, also ohne Straße, eine für Radweg seitlich der Straße und eine andere Farbe für Radweg auf der Straße mit Trennstrichsymbolik (Placeboradweg sozusagen).
In Bingen an der Nahemündung saß ich lange auf einer Bank, zwei Tage ist das jetzt her, und beobachtete das Treiben der Kreuzfahrtschiffe, Frachtkähne, der Schubverbände, das Flattern der Wasservögel, die Bojen, und lauschte dem Donnern der Güterzüge auf der Rüdesheimer Rheinseite. Ewig lange Containerkolonnen mit wuchtigen Loks davor.
Ein Radler stoppte und fing einfach ein Gespräch an, gab mir Tipps, wie so ein Conferencier und er behielt auch die anderen Radler im Auge, die wie Ameisen umherirrten auf dem kleinen Platz am Nahe-Rheineck. Offenbar hatte er auch schon mit ihnen gesprochen. Denn per Handzeichen und Rufen versuchte er, sie zu dirigieren. Nein, nicht da lang, dort über die Brücke, rief er den einen zu und murmelte über ein anderes Radlerpaar, ich dachte, die wollen über die Fähre. Gerade hatten auch sie angesetzt, auf dem linksrheinischen Radweg die Nahe zu überqueren.
Ich stellte mich auf eines jener längeren Gespräche ein, die zwar nährend sein können, aber bei denen man auch schauen muss, dass man irgendwann wieder den Absprung schafft und weiterkommt.
Drüben bauen sie einen Radweg auf einer eigens neben der Straße gebauten Überbauung direkt am Rhein, sagte der Mann, dabei wäre es doch so einfach, wenn man die Züge einfach umleiten würde über die Frankfurter Strecke und den alten Bahndamm stilllegen, dann hätte man eine prima Fahrradautobahn. Ich gab ihm recht. Das Mittelrheintrauma.
Seit ich im Rahmen einer Burgenbloggerbewerbung vor gut zwei Jahren näher mit dem Mittelrhein befasst bin, höre ich eigentlich nur die selbe Leier: das Tal ist laut, die Menschen wandern ab, von Rheinromantik kaum noch eine Spur und mein Gegenüber betete all das genauso herunter. Als ob es keine anderen Themen gäbe.
Es gibt keine anderen Themen, dämmert es mir nun, nach zwei Tagen und etlichen Kilometern auf dem Mittelrheinradweg. Lärm und Gestank sind omnipräsent. Wie Rosinen liegen die Städte und Dörfer im engen Flusstal und buhlen um Touristen, die von Rheinkreuzfahrtschiffen zu hunderten auf Landgang gespien werden oder die per Wohnmobil, Mietauto, Motorrad auf den beiden Bundesstraßen in die Kleinodien kommen, wo sie verloren zwischen Restaurants und Souveniersbuden umherirren.
Nach Bacharach soll ich fahren, wenn ich Hunger hätte, sagte der Mann, dort gibt es den alten Posthof, das Essen sei gut und so folgte ich, brav wie ein Zögling, seinem Rat am gestrigen Sonntag. Der Magen knurrte mich voran und ich malte mir ein Riesenschnitzel aus mit massenhaft Pommes und Salat, serviert auf einer Terrasse zwischen Fachwerk und alten Stallungen, die irgendwie umfunktioniert wurden zu Küchen und Speiseräumen. In meinem Kopf lebte auch ein bisschen die alte Postroutenromantik aus den späten 1800er und frühen 1900er Jahren, wie ich sie mir vorstellte mit Kopftsteinpflaster und eisenbeschlagenen Kutschenreifen und Gebimmel und griesgrämigen Kutschern und dem Geklacker der Hufe.
Bacharach sei die Mitte der alten Postroute Mainz-Koblenz, sagte der Mann. Einen ganzen Tag brauchten die Kutscher bis dahin. Im alten Posthof übernachteten sie und die Pferde und die Fahrgäste.
In der Tat kam der alte Posthof genau dem hin, was meine Phantasie mir vorgegaukelt hatte. Durch ein Tor gelangt man in den Innenhof, in dem früher wohl die Pferde aus- und eingespannt wurden. Außenrum Ställe, Fachwerk, in den oberen Etagen waren womöglich die Zimmer für die Fahrgäste. Eine alte eiserne Briefklappe ist noch am Eingang zu sehen. Aber die Fensterläden sind zu, belebt ist nur der Innenhof. Einige zig Gäste sitzen an den Tischen und ich überlegte schon, umzukehren, denn das kann dauern, bis man bei solch einem vollen Restaurant bedient wird. Der Fahrradständer direkt neben einem freien Tisch überzeugte mich denn doch, zu bleiben. So habe ich Gepäck und Rad im Blick und kann gemütlich sitzen.
Der alte Posthof ist eine Maschine, eine perfekte Fütterungsmaschine, muss ich nun sagen. Ein freundlicher Kellner schwirrte von Tisch zu Tisch und nahm die Bestellungen auf, die per Funk in die Küche gehen und in Windeseile schwirrten die Bedienungen heraus und servierten. Wäre die Portion nicht kläglich klein gewesen, ich hätte fünf Sterne gegeben auf der irgendlinkschen Essbudenskala. So bleibt jedoch der schale Mastviehgeschmack, den ich in der Welt immer öfter habe. Durch und durch optimierte Menschenwelt, in der wir selbst unser eigenes Mastvieh sind, sozusagen Viehzüchter und Vieh in Personalunion.
Nirgendwo sonst auf meinen Reisen habe ich die große Weltenpumpe aus Effizienz und kapitalistisch bis in die feinsten Poren durchoptimierter Gesellschaft deutlicher gespürt, als hier im Mittelrheintal. Das liegt wohl daran, dass man sowohl die großen, treibenden Mahlräder des Weltengetriebes ebenso deutlich vor Augen hat, wie auch die kleinen alltäglichen, in den wir uns als Einzelpersonen verstricken. Als kleiner Radtourist spült es mich durch die Feinmechanik der Fußgängerzonen mit all ihren Verlockungen von Tand und bunten Souvenirs und Uhrenläden und Batiktuchständen und Spazierstockverkäufern und und und, während draußen auf den Bahnlinien die Container aus Fernost donnern, in denen sich genau das Zeug befindet, das wir hier in den Läden kaufen. Jeder, der hier auf Alltag-raus-Seele-baumeln-Reise durchkommt, erliegt den Verlockungen und, geben wir es doch einmal zu, wir sind ja froh, dass wir die perfekte Maschine erleben dürfen, die reibungslos befüttert. Nicht auszudenken, wenn die Restaurants nicht per Funkstrecke in die Küche durchorganisiert wären, wir würden doch ewig auf unser Essen warten.
Nun im Zelt, im Schneidersitzbüro, seit vier Uhr wach, erlebe ich das Talerwachen. Die Steilhänge scheinen etwas milder, etwas weniger hoch als weiter südlich, jenseits der Loreley. Der Straßenverkehr nimmt zu. Arme Teufel fahren gen Koblenz oder Mainz auf dem Weg in die neue Büro- oder Fabrikwoche. Zahnradeske Welt. Etwa alle viertel Stunde donnert ein Güterzug, garniert mit ersten Pendlerzügen. Ich frage mich, wo die Güterzüge gestartet sind, wo kommt dieser hell befeuerte LKW her, der drüben im Rechtsrheinischen an mir vorbeizieht, woher das Schiff? Was hat es geladen, wohin gehen die? Welchen Lebenstraum hat der Kapitän, der Trucker, der montagmorgenmüde Zuginsasse, der den Kopf an die Scheibe lehnt?
Ich sehe den Organismus Menschenwelt und der Mittelrhein ist die Lunge. Eine stählerne Lunge, die den Stoffwechsel der Waren betreibt, damit die durch und durch perfektionierte Geld-Mensch-Waren-Kreatur, die wir geworden sind, nicht erstickt.
Schön, meine Wandergegend in Deinen Worten anders gespiegelt wiederzufinden.
Hallo Jürgen,
wenn nur alle Viertelstunde einmal ein Güterzug vorbeidonnert, dann musst Du aber eine verkehrsarme Zeit erwischt haben. Nach meinen Beobachtungen sind sie – leider – viel häufiger. Recht hast Du: der Verkehr verschandelt das Mittelrheintal.
Weiterhin safe bicycling, und einen schönen Aufenthalt in Bonn,
Pit
P.S.: Wenn Du weiter linksrheinisch bleibst, kommst Du auch durch – oder zumindest ganz nah vorbei – meine Heimat- und Geburtsstadt Linn [http://tinyurl.com/zjmp2to]. Offiziell heißt es „Krefeld-Linn“, aber der echte Linner hört das gar nicht gerne, weil Linn vor Krefeld Stadrechte hatte und erst spät eingemeindet wurde. 🙁 Krefeld als Stadt lohnt sich meiner Meinung nach nicht (mehr). Es ist ziemlich verschandelt worden. Aber Linn hat man – finde ich – wieder schön herausgeputzt. Schöner als zu meiner Jugendzeit dort. Auch die Burg(ruine).
Mein Elternhaus siehst Du übrigens hier: http://tinyurl.com/jblao6a