Wenn man die Klänge an diesem Ort in ein Bild umsetzen würde, im Vordergrund wären die Vogelstimmen, viele verschiedene, meist trötende Vögel, die fast wie Quietschentchen klingen, nur in ‚erwachsen‘. Quietschentchen jenseits des Stimmbruchs. Das Windspiel in den Blättern der Pappeln wäre ebenfalls im Vordergrund, ein Knacken von Geäst im nahen Wald. Weiter hinten graute sich der Verkehrslärm ein, eher ein Rauschen, wie eben Gummi auf Teer klingt und ganz hinten im Bild, sozusagen das akustische Alpenpanorama, ragen die Dreitausender der Schiffsdiesel aus dem Dunst.
Ich bin auf einer Halbinsel in einem Baggersee. Die Arbeiter haben die schwimmende Sandpumpe in Betrieb genommen, erstaunlich leise mahlt sie und pumpt ein Gemisch aus Sand und Wasser und vermutlich auch Pflanzen und Mikroben in eine Pipeline, die sich auf Pontons durch den See zieht.
Die Sonne steht schon etwa eine Hand breit überm Horizont – oder muss es heißen eine Hand hoch? – also vier Finger und einen Daumen, um es mal in übersetzter Indiandersprache zu sagen.
Den wunderbaren Platz habe ich nur entdeckt, weil ich gestern Abend eine Joggerin fragte, ob es hier einen Campingplatz gibt. Ich checke vor der Lagersuche stets, ob dort, wo ich wildzelten will, nicht zufällig ein Campingplatz ist. So kann ich mich gut rausreden, falls sich jemand beschwert: es war dunkel, ich war müde, ich musste hier campen – und falls es doch einen Camping gibt, ist das auch nicht übel, dann gibt es eine warme Dusche und vielleicht Drahtlosnetzwerk. Die Joggerin erwähnte einen Platz fünf Kilometer abseits in einem Ort namens Wisseling, glaube ich. Zu weit, aber da drüben auf der Halbinsel ist ein schönes Plätzchen, sagte sie. Der See ist aber mit Stacheldraht eingezäunt. Alle paar zig Meter hängt ein Schild am Zaun, Betreten verboten, garniert mit anderen Schildern, die noch viel bedrohlicher klingen: Treibsand. Wilde Karl-May-Phantasien werden wach. Von wackeren Wüstenreitern, die mit ihren Kamelen im Sand versinken. Aber es sind Menschen jenseits des Zauns. Sitzen am See, scheinbar mitten im Treibsand und genießen die Abendsonne.
Ich soll dem Radweg folgen und um die Bucht herumradeln, sagt die Joggerin, ne, halt, da vorne ist ein Loch im Zaun, da könne ich abkürzen. Aber da steht Betreten verboten. Da guckt sie verschmitzt und sagt, wenn man es lesen kann.
Top Platz. Im Süden steht das ehemalige Kernkraftwerk Kalkar. Der berühmte Schnelle Brüter. Sieht aus wie ein Miniatur-Tschernobyl. Schon von weitem kann man es sehen, wenn man rheinabwärts radelt. Was mich wohl erwartet dort, fragte ich mich kurbelnd. Eine Atomruine, ein gut bewachtes Gelände? Strahlt das noch? Haben sie es zurückgebaut? Ich weiß nichts über den Schnellen Brüter, nur dass er immer in den Medien war, skandalös in den Achtzigern, den komischen Namen, der eher für einen Vogel passen würde, fand ich amüsant. Der Kühlturm ist etwa halb so hoch wie herkömmliche Kühltürme. Bund bemalt. Sind da etwa Graffitikünstler eingedrungen? Was ist aus ihnen geworden? Leben die noch oder sind sie an Strahlenkrankheit gestorben?
Der Radweg führt um das Kraftwerk herum, führt direkt am Eingang vorbei. Ein Wassergraben führt ums Gelände. Der Zaun sieht nicht nach Hochsicherheit aus. Auch keine Warnschilder und Wachposten, stattdessen prangt am Eingang in großen Lettern die Schrift Familienpark. Das Tor steht offen. Parkplätze, belegt. Dahinter im Krafthaus ein Hotel, Getränkeflatrate gäbe es dort, twittert Freund @pattafeufeu.
Die beiden möglichen Werdegänge alter Atommeiler: die einen landen im Betonsarg und sind wegen Strahlengefahr 30 Kilometer weit von Sperrzone umgeben, die anderen werden gereinigt und zurückgebaut und in einen Lustpark verwandelt. Ich gebe zu, ein bisschen mulmig ist mir dennoch. Man kann die Strahlung ja nicht sehen, und wer weiß, ob es beim Rückbau mit rechten Dingen zuging?
Noch am Morgen flanierte ich im Duisburger Landschaftspark. Das ist nicht etwa eine besonders schöne Landschaftsgegend mit Wiesen und Auen, es ist ein ehemaliges Stahlwerk. Hohe Kessel und Türme, Förderbänder, Eisen soweit das Auge reicht, Hochöfen. Stillgelegt und dem Menschen als Park zugänglich gemacht. Es gibt Restaurants und ein Jugendhotel. In einer Art Innenhof liegen dreißig, vierzig Zentimeter dicke und vielleicht zwei mal zwei Meter große Eisenplatten. Wie ein Schachbrett angeordnet. Verschwurbelnd rostend bilden sie eine eigenartige, flache Skulptur, auf der es sich als Kind sicher prima Hüpfspiele spielen lässt. Grün sucht sich seinen Weg zwischen den Eisenkonstruktionen. Zwei Männer rücken hoch oben mit Schneidbrennern einigen vielleicht baufälligen Teilen zu Leibe. An einer Ecke gibt es einen Kletterpark vom Deutschen Alpenverein mit eigens in den Beton verankerten Griffen. Sehr viele Klettertouren mit Sicherungsmöglichkeit sind eingerichtet. Am Toureinstieg stehen die Namen, gewohnt witzig bis philosophisch wie dies beim Klettern oft der Fall ist. ‚Das ist Mainz‘, heißt eine Tour. Es gibt die ‚Via Anita‘ und die ‚Via Sonja‘, ein ‚Stairway to Heaven‘ und noch einen anderen Stairway, an den ich mich gerade nicht erinnere. Ich habe einige Fotos gemacht für eine spätere Rekonstruktion der Erinnerung.
Durch den Landschaftspark fließt die Emscher, einst der dreckigste Fluss Deutschlands. In den Achtzigerjahren ertrank in der Brühe der Reiseschriftsteller Michael Holzach, als er versuchte, seinen Hund zu retten. Holzach durchwanderte Deutschland ohne Geld und schrieb ein Buch darüber. Ich meine, es heißt Deutschland umsonst. Der Hund konnte gerettet werden.
Die Lektüre von Holzachs Buch ist vielleicht mit ein Grund, warum ich der reisende Europenner-Künstler geworden bin, der ich nun bin. Auch Rüdiger Nehbergs Bücher prägten mich.
Der Mensch in seiner Zeit tut das, was der Mensch in seiner Zeit tut. Und zwar nicht nur der Einzelne, sondern viele. Es gibt In-Themen, die uns Menschengesellschaft im Laufe der Jahrhunderte beschäftigen und an denen sich nicht nur einer festbeißt, sondern viele, sei es, dass man an der Entwicklung von technischen Errungenschaften an verschiedenen Orten der Erde forschte, ohne voneinander zu wissen. Sei es, dass man versuchte, den Nordpol oder den Südpol als erster zu erreichen. Auch der Wettlauf ins All ist ein Beispiel. Dieser Wettlauf-nebeneinander-her-Gedanke kam mir in Bonn, als ich in der Ausstellung über den Rhein von Ernst Bromeis hörte. Er sei der erste Mensch, der den Rhein von der Quelle bis zur Mündung durchschwommen hat. Zuvor hatte ich im Gästebuch des Kanuclubs, wo ich übernachtete, gelesen, dass ein Chemieprofessor, Andreas Fath, den Rhein vom Tomasee bis Rotterdam erschwommen hatte. Auch 2014. Gabi vom Kanuclub erzählte haarsträubende Geschichten über die Auflagen des Wasserschiffahrtsamts, dass der Mann nur rechtsrheinisch schwimmen durfte, egal, ob dort gerade gefährliche Strömung herrscht, oder der Fluss von Bunen barrikadiert ist. Mit den Kajaks hatten sie ihn eine Weile begleitet.
Nun erlebe ich die ‚Wundersame Rhein-der-Länge-nach-Durchschwimmer-Vermehrung‘. Fast wie Scott und Amundson zum Südpol.
Ich erkenne, dass es immer viele gibt, die die auf ähnliche Ideen kommen und dass jede Zeit ihre Themen hat. Humbold und seine Forschungsreisen – das war damals Mainstream. Jeder, der es sich leisten konnte, erforschte irgendwas. Auch in der Musik lässt sich erkennen, wie wir alle gemeinsam an der gleichen Suppe kochen.
Und auch das Livereisen, so wie ich es betreibe, ist seit einigen Jahren ziemlich angesagt. Gib den Menschen Werkzeuge und technische Errungenschaften an die Hand und sie werden sofort beginnen, sie in ähnlicher Weise zu nutzen.
Es würde mich interessieren, wie viele Menschen meiner Kategorie gerade vor ihren Zelten sitzen und ihre Reiseerlebnisse aufschreiben. Hunderte? Tausende?
Ab Duisburg legt sich das Gemetzel aus Großstädten am Rhein. Zum Glück. Die beiden Tage seit Bonn (über die es einen unfertigen Blogeintrag gibt), vorbei an Köln und Leverkusen und Düsseldorf und zahllosen anderen Städten, von denen allen ich schon einmal gehört habe, waren sehr anstrengend. Eingehüllt in Lärm und Gestank. Die Radwegeplaner haben ihr bestes getan, um einen schonend durch die Agglomeration zu führen. Seit Duisburg hat das Deichland die Macht übernommen. Der Radweg führt oft auf der Deichkrone, manchmal auch auf Feldwegen. Ringsum Kuhweiden, ab und zu ein Industriebauwerk, sehr angenehm zu radeln. Ich hoffe, es bleibt so.
Xanten sei noch erwähnt, welch Perle. Lange saß ich vor der alten Windmühle und beobachtete und belauschte das Flattern der leinenen Rotorblätter. Buckeckern fielen herab. Blätter flogen.
Ich sehe das Hörbild und freue mich über all diese Impressionen.
Der Lustpark im Ex-AKW hat ja was Schwerter-zu-Pflugscharen-haftes, dennoch ist es mir mulmig gewesen beim Lesen.
Ich mag deine Gedankensprünge und wie du bei mir was anstößt.
Klasse!
David hat ja per Kommentar aufgeklärt, dass da nie Atom drin war. Cool.
Hey, keine Gefahr in Kalkar! Der „schnelle Brüter“ hat nie radioaktives Material gesehen.
Ahaaa. Ich erinnere mich nur dunkel an die Berichte. Vielleicht ist das der BER unter den Atomkraftwerken?
Hatte ich auch gerade schreiben wollen, aber Du bist mir zuvor gekommen. Liegt vielleicht am Zeitunterschied, denn hier ist es jetzt erst 07:35 morgens.
Die schöne Buntfährengeflügelpostkarte kam heute unbeschadet hier an – lieben, lieben Dank dafür!
Jederzeit wieder willkommen hier, gelle.
Gruß von Sonja
Danke Sonja. Wir können ja ab und zu den Hüpfer über die Hügel machen, ich nach da oder Du nach hier, und einander besuchen.