[Irli] Das Ticken der Uhr, Viertelstunden-Dingdongs in jedem Dorf. Kirchglocken, Kuhglocken, Wasser rauscht, ewig stürzt der Bach. Der Wind wie er mit den dichtbenadelten Ästen der Föhren spielt, eingekeilt zwischen Bergen, die, wie verspannt mit armdicken Drahtseilen der Seilbahnen, eine Art Geflecht bilden. Ein Linienbus, gelb, pünktlich, sich in Zeitlupe durch eine der vielen Haarnadelkurven des Oberalppasses drehend. Wie Tanz. Der geheimnisvolle Takt der Welt. Menschen erwachen. Es wird laut. Wenn die Sonne schiene, würden auch die Bienen und Hummeln laut.Gestern musste ich zum Wasserholen unter einem Elektrozaun hindurch kriechen und durch hohes Gras zu einer Pferdetränke laufen. Ein zum Brunnen – gehauener Baumstamm – in den ein Kunststoffrohr mündete, aus dem Quellwasser floss. Der Stamm war etwa drei Meter lang und rings um ihn war die Erde so sehr zu Schlamm zertreten, dass ich mit einem gewagten Schritt auf den Brunnenrand steigen und bis zum Rohr balancieren musste, um die Trinkflaschen zu füllen. Das Wasser floss unendlich langsam. Ein millimeterbreiter Strahl löste sich von einem Zopf Algen und tröpfelte ins Becken. In der Hocke sitzend hielt ich die Flasche und beobachtete, wie sie sich langsam füllte, fühlte wie sie schwerer und schwerer wurde. Sich vorzustellen, dass sie endlich voll ist, ist genau das gleiche Gefühl, wie mit dem Fahrrad einen Pass hinaufzuradeln und zu versuchen, die Passhöhe mit den Augen herbeizuzerren. Du kannst den Weg im Einklang oder in Zwietracht gehen, aber du kannst ihn nicht nicht gehen. Zeit. Auf dem Brunnenrand in der Hocke sitzen ist elend anstrengend. Dein ganzes Gewicht liegt auf den Zehenspitzen. Die Waden schmerzen. Der Muskelkater vom Weitwandern mit schwerem Gepäck erledigt den Rest. Dies könnte auch ein Wasserhahn sein an einer Hauswand, wo die Leute ihren Gartenschlauch anschließen, das Wasser müsste nicht so elend langsam rinnen. Man könnte auf dem Pflaster vor dem Wasserhahn bequem stehen. Vielleicht stünde sogar ein Plastikstuhl daneben? Ich könnte den Wasserhahn nach Belieben aufdrehen und die Fließgeschwindigkeit regulieren. Ist aber kein Wasserhahn. Ich erkenne, dass ich stets natürlichen Bedingungen unterworfen bin, Teil eines nur manchmal variierbaren Systems. Hat man einmal die Wahl für das Eine oder Andere getroffen, sind die Parameter fix … das ist jetzt vielleicht konfus.
Während sich die Trinkflasche Tropfen um Tropfen füllte, starrte ich auf die Weide. Beinahe meterhoch ragten Disteln empor. Wieviele Jahrmillionen sie wohl schon auf diesem Planeten wachsen? Ein inniger Moment der Erkenntnis, dass alles im malmenden Strudel der Zeit entsteht und vergeht. Der Mensch, kleiner tapsiger Bruder der Distel, unendlich langsam füllt sich seine Trinkflasche und die unerklärlichen Denk- und Empfindungsmechanismen, die ihn mal antreiben, mal hindern, mal die Richtung wechseln machen, mal diese oder jene Entscheidung treffen lassen, ticken unaufhörlich im Gleichklang der Zeit.
Drei vier wackelige Schritte zurück zum anderen Ende des Brunnens, ein beherzter Sprung über den ihn umgebenden Matsch, in limboesker Beuge unterm Elektrozaun hindurch, zurück auf dem Wanderweg, zurück auf Kurs.
Einfach wunderbar, mit dir und deinen Worten, Gedanken und Taten – samt den vollen Wasserflaschen unterwegs sein zu dürfen – durchs Land, durchs Leben.
Das ist schön; da weiß man doch, wieso das kein flotter Wasserhahn mit Lehnstuhl daneben war.
Das war sozusagen der Lotussitz des kleinen Mannes.
Der Blogartikel ist während des meditativen Wasserfassens entstanden. Hätte ich bloß eine Hand frei gehabt zum Bloggen 🙂