Angst – das vielköpfige Monster [SoSo] – #flussnoten

Schon vor dieser Wanderung hockte es neben dem Rucksack, dem noch leeren, am Boden. Täglich habe ich ihm entweder einen Kopf abgehackt, andere ausgehungert, wieder andere gefüttert.

Einer, der seit Kindheit gefüttert wird (oder nagt er bloß an mir, weil ich ihn lasse?), heißt Mangel. Auf dieser Reise will ich ihn aushungern. Erstens lerne ich Spenden annehmen (das ist mein erstes spenden-mitfinanziertes Projekt) und zweites will ich lernen, nicht immer alles vorrätig haben zu müssen. Ich übe.

Gestern wollten wir einkaufen. Dumm nur, dass es in der Region der wunderwunderwunderschönen Rheinschlucht keine Läden gibt. Da gibt’s nur Wanderwege, Bahnlinie, Bahnhöfe und den Fluss; für mehr ist da kein Platz. Die Dörfer kleben oben an den Hängen und auf dem nächsten Wegstück gibt’s noch nicht mal einen Wanderweg. Darum mussten wir gestern, nach einem echt tollen Weg am Fluss entlang und durch die Hügel am Bahnhof Versam-Safien einkehren. Dank der absolut genialen Pizzocheri, einer Büdner Spezialität, schafften wir es dann doch noch, den Berg rauftzukraxeln. (Fast so steil wie vor zehn Tagen auf den Pazzolastock.) Pizzocheriseidank.

Die Wahl zwischen rechter oder linker Rheinseite fiel auf die rechte, da die Gesamtsteigung ins Gebirge ein bisschen moderater aussieht. Erstes Tagesziel: Versams Dorfladen.

Wur haben nämlich kaum noch Vorräte. Das Klopapier reicht gerade noch. Im Sack noch ein bisschen Hirse, eine Fertigsuppe und einige Müeslistängel. Honig. Ein bisschen Schoggi. Ein Rest Kondensmilch. Und eine Tomate. So sieht’s aus. Das Mangel- Monster kann mich mal. 

Die andern Köpfe meines Mangel-Monsters? Nässe. Kälte. Schlaflosigkeit. Verletzungen. Blasen. Hunger. Durst. Zu große Anstrengung. Zu steiler Berg. 

Jeder Kopf kleidet sich in Vernunft. Natürlich. Weil Nässe, zusammen mit Kälte, echt schlimme Wandergenossen sind. Logisch.

Das Verrückte daran: Wenn man drin ist, dran ist (im Regen) ist es zugleich schrecklich und zugleich relativ. Was nass werden kann, wird auch wieder trocken. Ich weiß, dass das hier absehbar ist. Dass schier Unerträgliches vorbei geht. Nicht als Floskel, sondern real. Weil ich in einem sicheren Land mit Infrastrukturen und hilfsbereiten Menschen lebe. 

Diese meine Ängste sind allesamt relativ. Ich stelle mir oft vor, wie es wäre, wären die schrecklichen Momente unabänderlich. Menschen auf der Flucht, ohne jegliche Perspektiven und Visionen fallen mir ein. 

Ein Leben ohne jegliche Perspektive, Hoffnung, Traum, Ideal – das ist das eigentliche Angst-Monster. Auch eins, das ich aushungern will.

11 thoughts on “Angst – das vielköpfige Monster [SoSo] – #flussnoten


  1. liebe soso,
    verhungern wirst du bestimmt nicht. denn ohne zu essen kommt man schon eine zeitlang aus. die kräfte lassen erst nach etwa vier bis fünf tagen nach. trinken ist sehr viel wichtiger. nicht umsonst heißte es ja „durst ist schlimmer als heimweh“. nimm meine dummen sprüche nicht zu ernst – ich kann deine situation gut nachempfinden. übrigens gelbe linsen sind auch schnell zubereitet und schmecken lecker. falls ihr einen tante emma laden trefft.
    so long
    hundefaenger


    1. Wir haben Bohnen gekauft. Danke fürs Mitfühlen. Wir haben zum Glück wieder Brunnen gefunden und die Flaschen gefüllt.
      (Das mit dem Hunger weiß ich von meinen Fastenwochen, zum Glück.)


  2. Ein wundervoller und sehr feinsinniger Text. Ihr seid so fleissig im Schreiben, dass ich immer etwas nachhinke mit Lesen. Aber ich winke euch im Geiste zu. Ich wünsche euch eine erlebnisreiche Reise und auch, dass ihr ein paar der alten Angst-Monster abhängt, Schritt für Schritt.


    1. Oh, danke dir. Aber bitte nicht hinken, einfach Schritt für Schritt und wenns passt, mitwandern. Schön, dass du da bist.


  3. Die Hydra der Angst … das hast du wunderbar beschrieben.
    Danke
    Heute, am doch schon recht fortgeschrittenen Nachmittag kam mir der Postmann auf der kleinen Auffahrt entgegn, lächelnd, das ist so Einer, als ich die Post aus seiner Hand entgegennahm, zurücklächelte, wünschte ich mir „bunte“ Post. Manchmal gehen Wünsche auf der Stelle in Erfüllung. Ich hab mich sooo gefreut und ja, gefällt mir sehr!
    Herzliche Grüsse von Berg zu Berg (warum können Computer nicht jodeln?)
    Ulli


    1. Hach, das freut mich aber jetzt sehr, erstes (das Kompliment) und zweitens die bunte Post! Toll.


  4. ohja
    angst vorm verhungern
    angst vorm erfrieren
    was habe ich bleischwere rucksäcke geschleppt deswegen
    blasen an den füßen
    ächzende knie
    drei tage nur humpeln
    aber es war schon auch toll :)))
    lg birgit


    1. Ja, gell, aber mit jedem Tag und jeder gemachten guten gegenteilbeweisenden Erfahrung wird es besser!
      Danke dir.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert