Die Autobahn schreit neiiin neiiin neiiin by Irli | #Flussnoten

[Irli] Yin Yang, ja nein, gut böse, Licht Schatten … händeringend suche ich nach einem Einstieg für diesen Blogartikel und überlege, ob es irgendwo im Universum einen Antiirgendlink gibt, der einen Antiblogartikel schreibt und wenn wir aufeinandertreffen, verpuffen wir zu nichts. Körper und Antikörper verschränken sich ineinander und heben sich gegenseitig auf. Der Antiblogartikel steht mit gegenteiliger Botschaft weiß auf schwarz, legt man sie übereinander, bleibt ein leeres weißes Blatt. Keine Meinung. Keine Position, keine Aussage.

Dass beides immer da ist, der Irgend und der Antiirgend und dass sie tagein tagaus nebeneinander laufen, ahne ich nur.

Die Wettervorhersagevon vor ein paar Tagen sagte übles Gewitter und Regenwetter voraus. Eigentlich für den Rest der Reise bis weit in die nächste Woche. Und so war meine Laune ziemlich mies, als vorgestern die ersten Tropfen niedergingen und sich schnell zu einer unwanderbaren Suppe verdichteten. Wir verkrochen uns unter einer Bahnbrücke. Schmutziger Beton, ein kanalisiertes Rinnsal in Trapezrinne vor uns. Es könnte ein Bauhausbrunnen sein, wenn nicht überall hässlich dilletantische Graffities gesprayt wären. Die Bahntrasse donnerte im regelmäßigen Takt über uns. Ich erinnerte mich an das Klo in einem alten Bahnwagen, der uns vor fast zwei Wochen hinaufbrachte nach Göschenen, dessen Abfluss direkt in die Gleise führte. Die Brücke war zum Glück gekapselt.

Ewig hält man es nicht aus unter so einer zugigen Bahnbrücke.

Als der Regen schwächelte, schleppten wir uns einen knappen Kilometer weiter bis in ein Industriegebiet, krochen unterm Vordach einer Fabrik unter. Wohnsiedlung im Blick. Eine Schweizer Fahne an Balkon, die sich dreimal in diversen Fenstern spiegelte. Mein Gemüt klammerte sich an das Bild. Definitiv ein besserer Ort als die Brücke, wenn auch nicht schön.

Ein Rätsel, das mir mein Wahrnehmen der Welt immer wieder aufgibt ist, dass Zustände grunsätzlich als dauerhaft angenommen werden: wo sehen Sie sich in fünf Stunden? – Bibbernd im Zelt an einem schmutzigen lärmenden Ort. Alles ist nass.

Die Vernunft weiß zwar, dass Zustände einem ständigen Wechsel unterliegen, aber alle Vernunft und Logik der Welt vermögen nicht, ein Gefühl zu simulieren. Die innere Orgasmusvortäuschung sozusagen. Sie klappt nicht. Wieder ließ der Regen nach und wir schleppten uns ins nahe Dorf, kauften Lebensmittel und als wir aus dem Laden kamen, hatte der Regen aufgehört. Den alten Damen, die aus der Bank kamen, riefen wir nach, vergessen Sie Ihren Schirm nicht.

Wo sehen Sie sich in fünf Stunden? – Auf einer Wiese, zeltend nahe der Autobahn, vielleicht ist es trocken.
Ich erzählte Frau SoSo den uralten Witz von (ich glaube) Otto: Frau Suhrbier, sie wohnen seit zehn Jahren an der Autobahn, hat ihnen das geschadet? – Neiiin neiiin neiiin.

Ein Spaziergänger erklärte uns den Weg runter zum Rhein. Unter der Autobahn durch beim Rastplatz links, dann rechts bis auf den Damm. Der Rhein fließe 1,6 Meter höher, als das Mündungsdreieck des (ich glaube der kleine Fluss heißt wie die nahe Siedlung) Landquart liegt.
Ein Gewerbegebiet. Unheimlich laute Autobahn, die das Murmeln des Flusses überschreit: Neiiin neiiin neiiin. 

Hier also müssen wir zelten. An Plätzen mangelt es nicht. Keine Zeltverbotsschilder. Stattdessen Nacktbadenverbote. Tse. Ich wundere mich stets darüber, wieso Nacktgeborene irgendwann im Laufe ihres Lebens, in dem sie sich in Anzüge oder Feinröckchen zu zwängen gelernt haben, auf die Idee kommen, Nacktsein zu verbieten. Was lief bei denen schief? Wie konnten sie derart rabiat ihren gesunden Menschenverstand einbüßen?
Wo sehen Sie sich in fünf Minuten? Auf der Isomatten neben dem Zelt. Die Autobahn schreit Neiiin neiiin neiiin. Der Fluss schweigt.

Aber Frau SoSo ist noch ein Stück weitergelaufen, um die Umgebung zu erkunden. Das machen wir bei fast jedem Lagerplatz. Die Gemeinde Zizers hat zwischen Autobahn und Rheindamm einige Biotope einrichten müssen, um die Natur für die Landnahme durch das Gewerbegebiet zu entschädigen. Tümpel, die durch Auwald verbunden sind, damit die Frösche wandern können.
Grinsend kehrte Frau SoSo von ihrem Erkundungsgang zurück. Punkt Sieben wird dich in Entzücken versetzen, sagte sie im Heftig.co-Stil und grinste schelmisch. Ein Denner zum Bierkaufen? Besser? Komm mit.

So wanderten wir weiter auf dem Rheindamm, links der Fluss, rechts die Biotope und dahinter die Autobahn. Hörst du?, fragte Frau SoSo.

Der Fluss ging in Stromschnellen über, wurde lauter und plötzlich standen wir am Landquart (?), der so laut war, dass man die Autobahn, deren Brücke gut zu sehen war überhaupt nicht mehr hörte. Das Zelt passte geradeso zwischen eine wulstige Wurzel und eine Betonplatte. Daneben Parkbank. Flussrauschen. 
Fasziniert, wie sich die Geräusche überlagerten, wie beides immer da ist, aber nur eines wahrnehmbar, schlief ich ein und fabulierte an einen Blogartikel, indem ich den Autobahnrastplatz Zizers zu einer Pilgerstätte erheben würde, zu dem alljährlich Hunderttausende pilgern, aussteigen, den Kilometer über den Rheindamm laufen würden und bermudadreieckesque über den kleinen Rundkurs bei den Zizers-Biotopen wandern, um die Erfahrung der Geräuscheverschiebung zu machen.

4 thoughts on “Die Autobahn schreit neiiin neiiin neiiin by Irli | #Flussnoten


  1. Salü Irli,
    Du schreibst: „bleibt ein leeres weißes Blatt.“ Vielleicht bleibt ein leeres schwarzes Blatt.
    Tschüss.

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