Auslaufen und denaturieren by Irli | #flussnoten

Staub. Pudriger hellgrauer Staub. Frau SoSo wandert vor mir auf dem schmalen, fußbreiten Pfad hoch auf dem Rheindamm. Rechts der Fluss, links Wiesen, hundert Meter weiter rechts ein zweiter, höherer Damm, dahinter die Autobahn, Wege und Straßen, das Menschenland, Dörfer, Industrie, Handwerkskuben aus Beton oder blechverkleidete Bauten, Sportplätze, hie und da stechen Kirchtürme in den Himmel, dahinter bewaldete Berge, sanfte Erhebungen, Weinberge, die wie die Barten eines Wals nach dem Forst lecken. Mit jedem Schritt wirbelt Frau SoSo Staub auf. Wir könnten in Jütland sein, wenn man die Berge ausblendet. Vorne die Nordsee und ihre imaginären Möwen, Fischereihäfen, bunte Kühe, wie ich sie bisher nur in Jütland sah, glänzten in der Sonne, die Luft schmeckte nach Salz. Mein innerer Nordseehafen würde den Fang des Tages umschlagen und in die Fischfabriken liefern, wo die glitschigen, frisch geschuppten Lebewesen, die noch vor Kurzem im Wasser schwammen, ausgeweidet würden und für den Verkauf zerkleinert und verpackt würden.

Drüben in Österreich sähe es so ähnlich aus. Fahrzeuge der Grenzpatrouillen fahren auf den Wegen. Auf der Suche wonach? Alle Grenzposten sind besetzt. An den Brücken staut sich der Verkehr.

Wir wandern von Brücke zu Brücke, ruhen in deren Schatten. Über uns donnern Autos, Motorräder, LKW. Manchmal hört man die juchzenden Stimmen von Kindern, die mit ihren bewimpelten Fahrrädern die Rheinseite wechseln.

Wenn ich mich nur auf Frau SoSos Füße, den Staub konzentriere und mir das überreife Gras auf dem Damm wegdenke, könnten wir auch auf dem Mond wandern. Unsere Rucksäcke wären Überlebenspacks voller Luft und unsere pludernden Wanderhosen sähen ein bisschen aus wie Raumfahranzüge.

Eine alte Eisenbahnbrücke endet mitten im Fluss. Darauf ein eisernes Gefährt. Die alte Schmalspur führt neben dem Damm weiter Richtung Bodensee. Stand By Me Feeling. Bratende Sonne. Ein Geheimnis wabert in unseren Köpfen. Etwas wird geschehen. Wird etwas geschehen?

Wir laufen aus. Genau wie der Fluss. Nur noch knapp zehn Kilometer Luftlinie bis zu unserem Ziel. Dann haben wir den Rhein ab der Quelle im Tomasee bis zu seiner Mündung in den Bodensee absolviert.

Absolviert? Gemacht? Bezwungen? Erobert? Abgehakt? Das klingt alles so negativ. So durchaus menschlich besitzergreifend kräftemessend, kapitalistisch einvernehmend.

Nein. Das ist es nicht. Das sind wir nicht. So ist unsere Wanderung nicht. Denn sonst wären wir schon längst wieder daheim, wenn wir den Weg des Vereinnahmens dem Weg des Einvernehmens vorgezogen hätten. Dann würden wir vor chromglänzenden Grills in Lebensmitteln zur Nöche schwelgen, hier ein feines Sößchen aus dem Labor der Lebensmittelkonzerne, da eine Tüte Chips, darfs ein bisschen Fisch in grillfertiger Aluschale sein, und wir würden unseren Freunden von dem Abenteuer erzählen, das wir abgehakt haben, jene vielleicht 200 Kilometer, die wir zu Fuß gemacht haben in nur zwei Wochen. Eine streng getaktete Urlaubstour läge hinter uns. Mal was anderes, als die Tauchferien auf den Malediven, der Städtetrip durch alle europäischen Hauptstädte oder den Kilimadscharolangweiler.

Wir sind der Fluss, denke ich manchmal und korrigiere mich sofort, wir sind wie der Fluss und korrigiere mich erneut wir lernen vom Fluss und wieder stimmt etwas nicht.

Der Fluss und wir haben etwas gemeinsam, beschwichtige ich, wohl wissend, dass der Fluss der Fluss ist und wir wir, nur zwei Menschen, die dahintreiben und für eine Weile Fluss spielen. Eine Weile Fluss sind.

Von Naturgewalten umschmeichelt ließen wir uns auf diese Reise ein und nahmen demütig jedes Hindernis an, jede Beflügelung, jedes Katarakt des Lebens durchliefen wir, stauten uns, fielen, zerlegten uns zu Tropfen, sammelten uns wieder, hinterließen Spuren.

Frau SoSo brachte es auf den Punkt unter einer alten Stahlbrücke nahe Diepoldsau: Wir denaturieren, genau wie der Rhein, der von Menschenhand in ein enges, schnurgerades Bett gezwungen wurde. Fast tut es ein bisschen weh, ihn so zu sehen. Wehrlos wirkt er, gedemütigt, in seine Schranken verwiesen.

Wie wir mit unseren Flüssen umgehen, so gehen wir auch miteinander um, schießt es mir in den Sinn. Wie wir mit unseren (Nutz)tieren umgehen, so gehen wir miteinander um. Wie mit unseren Kindern, Gegenständen, Haustieren, mit uns selbst …

Ich spüre die Enge der menschlichen Gesellschaft (wieder). Amtsverbot, Bewilligung, Regeln, Lärm als Ventil für Frust, aber da ist auch viel Gutes an unserem Miteinander. Viel Gutes und viel Arbeit, denn das Schöne und Lebenswerte zu fördern braucht Kraft, Mut, Geduld, die Demut, Rückschläge anzunehmen, die nötige Einsicht, an den Stellen Renaturierungsmaßnahmen durchzuführen, an denen dies möglich ist.

So wandern wir die letzten Kilometer.

Bald sind wir am Ziel.

5 thoughts on “Auslaufen und denaturieren by Irli | #flussnoten


  1. Nachdenklich bin ich geworden beim lesen und immer nachdenklicher.

    Denaturieren müßt ihr jetzt im Eiltempo, während einer Zugfahrt, vielleicht das Wochenende lang. Und dann …


  2. …was für ein Text…was für ein Gefühl…was für eine Reise…was für Menschen…
    ich bin gerne mit euch mit gereist…auf meine ganz eigene Art und Weise… nun… verstummt… nicht gänz lich… ganzundgar
    alles liebe*


  3. Manchmal ist am Reisen das Heimkommen am schwersten, das Stillestehen, das Kennichschon.
    Der Rhein, das ist das Gute, bricht wieder auf. Bis zum Meer! Ihr habt noch viel vor.


  4. Hallo Juergen,]
    wie waer;s statt „abgehakt“, „abslviert“ oder Aehnlichem mit „(v)erfolgt“?
    Gratuliere Euch beiden zur Leistung, und danke fuer’s virtuelle Mitnehmen,
    Pit


  5. wie der Fluss sein, im Fluss sein, mit dem Fluss sein, Fluss sein, Mensch sein, und bitte mäandernd 😉

    ein sehr feiner Text, danke Jürgen und morgen eine gute Ankunft am „Delta“
    herzliche Grüsse an dich und die liebe Weggefährtin
    Ulli,
    ab morgen auch auf Wanderschaft, aber mit dem Auto und dennoch, ich freue mich sehr, sehr, sehr!

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