Südwind. Klebrige Hände. Sonne kriecht viel zu langsam über die Baumwipfel hinter mir. Das linke Kinzigufer hat sie schon erreicht. Frösteln dem Sonnenaufgang entgegen. Erst eben habe ich die Hände im lauen Kinzigwasser gewaschen und nun kleben sie schon wieder, als würde ich salzluftumspült irgendwo am Meer sitzen. Der Kehler Hafen, der die ganze Nacht über brummte, wird nach und nach vom Berufsverkehr hinter dem Damm übertönt. Ein Scheppern und Kettenrasseln und Containerächzen und Güterumschlaglärm liegt in der Luft, wird garniert vom Rückfahrpiepsen nicht sichtbarer LKWs und Containerkranen. Gelb schimmert das Fachwerk der Lastenträger. Rechts kann ich den Rhein sehen. Lastschiffe und Kreuzfahrtschiffe schieben dahin.
Seit Basel folge ich diversen Rheinradwegen meist direkt auf dem Damm, ungeteerte Etwasse, die für Rennradler ungeeignet sind. Ein bayrischer Rennradler fluchte sich vorgestern eine Weile parallel mit mir voran. Wie Staffellauf, wie Hase und Igel im stetigen Wechsel. Mal war er der Hase und zischte auf sandiger Piste vorbei, mal war ich Hase, wenn er wegen unrennradbarem Kies aus Angst vor Platten das Rad schob. In Frankreich sei es besser, sagte er. Alles geteert. Und fluchte über die Beschilderung. So seine subjektive Erfahrung.
Wenn man stur der Beschilderung des Eurovelo 6 folgt, kann aber eigentlich nichts schief gehen. Außer der Langeweile. Denn man brettert dann kilometerfressend über Kiespisten am Rhein. Links stehn Bäume, rechts stehn Bäume. Dann der Damm. Dann der Rhein. Dann die Orte wie bunte aufregende Menschentupfer im wilden Land.
Dass es trotz aller Eingriffe und Kultivierung durch uns Menschen dennoch wild ist, wird mir im Breisgau klar, als ich mich auf Lagerplatzsuche verirre. Urwaldig, Zweige und Gräser und Blumen greifen nach Dir auf schmalen Wegen. Tümpel und Froschquaken und Insektenzirpen, sechs sieben Kilometer weit unzeltbar, dann ein Kieswerk, stacheldrahtumzäunt betretenverbotend. Baggersee. Mais bis zum Wald, eine Schneise im Mais, bewacht von zwei Hochsitzen wie so eine Schachrochade. Da das Zelt aufbauen und riskieren, bejagt zu werden? In der Nähe eines Dorfs lichtet sich alles. Stoppelfelder. Ein Segen.
Die Flussnotenreise gerät zu einer Art Zustandsbeschreibung unserer Menschenwelt am Beispiel eines Flusses, denke ich abends. Im Blick: Maiskulisse, Hochsitz, Bewässerungssystem, ein ferner Funkmast, der mich mit mauem Netz in die virtuelle Welt koppelt. Die bruchstückhaften Fetzen meines Welterlebens rette ich in Form von Tweets ins Internet. Den Rest, große, tragende Geschichten, ausführlichere Erläuterungen, knete ich im Hirn zur Teigmasse, lasse sie ziehen. Gebacken wird dann in ruhigen Momenten wie diesem, wenn die Welt noch nicht ganz wach ist, die Sonne schneckenhaft lahm, die Situation ruhig dahinschnurrt und der Vorankommenswille noch nicht so drängend ist.
Das Zelt trocknet überm Fahrrad flatternd. Ich sitze auf einem umgedrehten alten Kahn und koche Kaffee.
Links stehn Bäume, rechts stehn Bäume und dazwischen Künstlerträume. Der Rheinradweg am Oberrhein kann unheimlich langweilig sein. Dann, wenn man ihn als Fahrradschnellweg nutzt und die Distanz Basel Rotterdam abhaken möchte. Wenn man sich einlässt, und dazu muss man sich fast zwingen, gerät er zu einem bunt beseelten Erlebnis aus Begegnungen, Architektur und Kleinodien. Beinahe wäre ich gestern an dem Myriameterstein vorbeigeradelt. Ein Grauer Kubus, vielleicht einen Dreiviertelmeter hoch auf dem Damm. Daneben eine Infotafel, schon bin ich hundert Meter weiter, mein Rheinabtriebshirn gibt mir die Peitsche, aber ein Funke Neugier gebietet Einhalt und so radele ich zurück zu dem scheinbar nichtigen Klotz und lerne etwas über die Rheinvermessung im 19ten Jahrhundert. Alle anderen Radler und Spaziergängerinnen passieren das Kleinod, während ich die antike Gravur studiere. Ab der Basler Rheinbrücke wurden im Abstand von 10.000 Metern (myria = griechisch für 10.000) diese Steine gesetzt. Mit römischen Ziffern durchnummeriert, ich stehe vor Nummer VII, siebzig Rheinkilometer am Flusslauf um 1863. Heute hat sich das vielleicht geändert. Die rheinzugewandte Seite des Steins zeigt die Meereshöhe ab Amsterdam, die beiden anderen Seiten geben Auskunft über die Entfernung zu den damaligen Landesgrenzen.
Nach dem meditativen Stopp wird mir klar, dass Langeweile ein selbstproduzierter Stoff ist, der vielleicht – wie so ein Hormon – ausgeschüttet wird, wenn man, fixiert auf ein Ziel, vergisst, die Gegenwart zu leben.
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Abkürzungen.
Man müsste Langsamkeit eigentlich auf die rote Liste der vom Aussterben bedrohten Lebensarten setzen.
Ich mäandere kreuz und quer im Oberrheintal, entdecke wunderbare Radpisten, verwunschene alte verwachsene Landstraßen südlich von Straßburg, die um die Hälfte geschmälert vom Wald ergriffen werden. Wäre die ‚Piste des Forts‘ nicht als Themenradweg ausgewiesen, hätte die Natur sich die alte, schlängelnde Landstraße längst wiedergeholt. Das Angkhor Wat des Oberrheins. Ein paar Kilometer nebenan rauscht eine schnellere, schnurgerade Straße von Ziel zu Ziel.
Der Städtekomplex Kehl/Straßburg mit seinen Gärten beidseits des Rheins und der wunderbaren Zweiländerfußgängerbrücke. Nationenmischmaschine. Halb Kehl spricht französisch. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich Entgegenkommende grüßen soll. Bonjour, Hallo, Guten Tag, einmal rutscht mir ein Grüezi heraus und ich fabuliere auf Twitter: Das Grüezi mit dem Bonjourlesbub austreiben.
Sonntagsspaziergänge. Kinderjauchzen, Wasserspiele, Hundegassis, Kehl voller Menschen, die Terrassen der Cafés und Restaurants quellen über. Kehl ist zwiespältig. Zum einen die schöne ruhige Innenstadt, aber außenrum Industrie, Hafen, hunderte Wohnmobile stehen auf Halde, Container, Autohäuser, Tankstellen, in denen vermutlich schlecht bezahlte Menschen dahinknechten.
Alles liegt so dicht beieinander. The Foul is Fair and the Fair is Foul und ich mittendrin beobachtend, einen Schnappschuss unserer Welt in die Flussnoten rettend, wohl wissend wie subjektiv und klein er eigentlich ist.
Jenseits des Hafens, fast an der Kinzigmündung in den Rhein verabrede ich mich spontan mit Twitterkollege @dielabertasche, Daniel, der gerade von einem Podcastertreffen im Hunsrück zurück ist. Klasse spontan. Kurze Nachricht ‚haste Zeit?‘ und schwupp kommt er angeradelt mit Alpirsbacher Leckerli im Gepäck und so sitzen wir zwei Stunden beisammen auf dem alten umgedrehten Kahn am Kinzigufer und erzählen aus unseren Leben.
Wie ein Puzzlestück, das diesen Flussnoten noch hinzu gefügt werden muss, kommen mir seine Erlebnisse als Busfahrer und Radreisender vor, aber das steht in einer anderen Flussnote.
Hallo Juergen,
ich bin zwar auch vorwiegendauf dem Rennrad unterwegs und schaetze asphaltierte Radwege (sehr), aber andererseits finde ich, wir muessen ja nicht allen Boden versiegeln. Wandeln wir mal den Spruch vom schlechten Wetter und der falschen Kleidung ab und sagen: „es gibt keine schlechten Radwege, sondern nur das falsche Rad“. Hier spricht die leidvolle Erfahrung von amerikanischen „dirt roads“. 😉
Weiterhin safe bicycling,
Pit