Von der Affenhitze des Aargaus auf über 2000 Meter. Den Zug hatten wir schon lange gebucht. 61 Franken pro Person kostet das Ticket – Frühbucherinnenrabatt, wohlgemerkt. Zuvor hatten wir überlegt, mit Frau Sosos Auto irgendwo ins Wallis zu fahren. Es legal für zwei Wochen zu parken, wäre ein Abenteuer für sich (ich schrieb mal eine Kurzgeschichte übers Parkieren in der Schweiz, die grotesk klingen mag, aber der angespannten Parksituation nahe kommt), kurzum, es wäre nicht viel billiger, per Auto als mit der SBB. Wir haben ein Generalabo für einen Tag. Auf dem elektronischen Ticket ist weder ein Startbahnhof vermerkt, noch ein Ziel. Das heißt, wir könnten eigentlich überall hin, frage ich Frau Soso. Ja, überall. Auch ins Tessin? Auch dahin. Und ins Niemandsland? Da sind wir gerade.
Sursee soeben passiert. Umstiege in Zofingen und Luzern hinter uns gelassen. Angenehme Atmosphäre in den Zügen. Es fühlt sich gesitteter, freundlicher, sauberer an als in Deutschland. Ein paar vergangene Bahnfahrtszenen der letzten Wochen in Deutschland kommen mir in den Sinn, mischen sich mit dem Gegenwärtigen. Da muss sich die übervolle Regionalbahn in der Westpfalz plötzlich messen mit dem den Berg, vermutlich auf Zahnrädern hinauf krauchenden Zug in Richtung Lungern. Langsam zieht die Welt vorbei. Drei Radler vor einer Schanke wartend, die Mountainbikes zwischen den Schenkeln. Der Zug fährt so langsam an der Szene vorbei, dass man wie in Zeitlupe inszeniert sieht, wie zuerst einer seine Finger mit ausgestreckten Armen dehnt, der nächste es ihm nach macht und schließlich auch der dritte einfällt in den Kanon mountainbikerischen Langeweile- Fingerdehnenes an einer lange zuen Bahnschranke irgendwo in den Bergen.
Andere erinnerte Bahnfahrszenen mischen sich ein. Jener Mopedfahrer in Sankt Ingbert, ein paar Wochen zuvor in Deutschland, der zweitaktdunstverpestend in den Aufzug fährt vom Eingang des Bahnhof runter in die Unterführung und wieder rauf zu Gleis drei … wozu, wozu, wozu, was geht in dem Typen vor?
Und hier, in der gegenwärtigen Gegenwart, beim ersten Umstieg belausche ich einen Kerl, den ich nur im Halbprofil im Abteil schräg gegenüber sehe. Er trägt Shorts, hat das Bein übers andere gelegt und sagt: Trading is something that never finishes. Das war in Zofingen. Stolz lag in seiner Stimme. Und Überzeugung.
Verflixt, ich hab das Büchlein vergessen mitzunehmen, das ich am Badischen Bahnhof in Basel fand, tags zuvor: Peter Handke, den Titel hab ich vergessen. Ich meine, es war irgendwas mit Aufbruch, was mir wie ein orakulöser Fingerzeig für den Weg schien.
Ab Luzern wollen Menschen gut riechen. Mit einem lippenstift ähnlichen Deoroller nimmt ein junger Mann etwas Duft auf die Fingerkuppen, reibt sich die Achselhöhlen ein, schaut sich verschämt um, reibt sich den Nacken ein, riecht fortan gut.
Unterquerung der Rüetliwiese vielleicht? Der Tunnel ist lang und Rüetliwiese kann eigentlich nicht stimmen, sonst wären wir bald in Altdorf. Sind wir aber nicht, sondern im Niemandsland.
Ringsum plötzlich viel Berg macht Angst, Wolken dito, Wettervorhersage beschwichtigt, nur 15 Uhr Gewitter, danach wieder schön.
Wers glaubt.
Gib dem Niemandsland Namen. Bahnhofsnamen. Sursee, Lungern, Sarnersee Camping am See, parzelliert, recht voll. Braungebrannte Senior-Vacation-Enjoyers.
Noch mehr Wolken. Giswil, der Urort der Regenschauer, wo das Wetter giesen will.
Herr Irgendlink, lass das sein mit den Ortsnamenwitzplatitüden.
Dieter Bohlen kehrt auf die Bühne zurück.
Er kommt auch in die Schweiz.
Er ist 68.
In den Zügen der Schweiz gibt es kleine Klatschnachrichtendisplays, in denen man solcher Informationen habhaft werden kann. Hineingepresst in die Ruhe suchenden Hirne der Menschen auf dem Weg ins Entrinnen in die Berge. Diese Übervölle an Informationen aber auch. Diese Belanglosigkeiten. Da lobe ich mir die mit Edding schamhaft an die Wände gemalten Sprüche der Westpfalz-Bahnen – obschon diese auch seltener geworden sind.
Ab Giswil steilt die Bahn, wird Schaukelbahn.
Ohrendruck. Felsen zacken bis zum Zugfenster.
Bus 161, nein, Postauto. Alle Hände griffeln nach den Gebläsen, die über jeden Sitzen hängen.
Wir verlassen Meiringen. Das war Etappenort bei unserer Wanderung die Aare abwärts im Jahr 2019 (Flussnoten III). Spulen die Reise rückwärts. Da guckmal, da lagerten wir und dort, der Campingplatz. Sieht schön aus, da wären wir beinahe gelandet, wenn der Tag nicht noch so viel Licht gehabt hätte. Der Platz, gesehen aus dem Postautofenster mag uns als Indikator dienen für die Fülle der Plätze. Nicht zu voll. Mal schauen, wie es im Wallis aussieht.
Wohnmobilplage am Grimselpass. Okay, ich übertreibe. Aber es sind viele, die da auf den großen, geteerten Flächen am Pass stehen.
Wir sind bald am Ziel, also am Startpunkt der Reise. Dem Busfahrer – äh, Postautofahrer, denn die gelben Omnibusse, die in die hintersten Winkel der Berge vordringen, heißen eigentlih Postauto, sagten wir, wir wollen zur Rhonequelle und er sagte, gut, dann könnt ihr die Rucksäcke unten in den Gepäckraum legen. Das dauert ein Bisschen bis dahin. Über die Rhonequelle als eine seltsame Chimäre unter den Ortsmarken wird Frau Soso berichten.
Die Busfahrt durchs Hochgebirge ist ebenso brilliant wie auch Furcht einflösend. Der Fels wird nackt und nackter und ganz oben auf über 2000 Metern ist er grün, glatt, wird sind froh, im Bus, äh, Postauto, zu sitzen, nicht wandern zu müssen.