Tastatur auf den zum Schneidersitz geformten Unterschenkeln. Handy wackelt auf dem Knie. Das morgendliche Schneidersitzbüro nimmt seinen Betrieb auf. Sein einziger Angestellter bin ich. Geht nicht. Die Tastatur ist zu wackelig. Also gruppiere ich um, lege alles auf die Isomatte.
Die Autobahn rauscht und im Himmel ziehen Flieger gen Frankfurt. Umgeben von verwahrlosten Obstbäumen steht mein Nachtlager auf einem stoppeligen Grundstück. Die Zeltunterlage ist wie zum Martern geschaffen. Trotzdem habe ich gut geschlafen. Embrional mich immer wieder hin und her rollend, den Körper die Maserung des Untergrunds annehmen lassend. Der Flecken ist so ähnlich wie Natur. Jenseits des Rheindamms, auf dem der Radweg führt, lauert Urwald, so zumindest will es meine Phantasie. Umgestürzte Bäume, wildes Gewächs. Alle paarhundert Meter stehen Naturschutzgebietsschilder. Aber ich befinde mich im Menschenland. Die Technoparty, die mich gestern mit Basswummern zu nerven drohte, endete recht schnell. Zuerst vermutete ich, dass es sich um ein Schiff handelt, auf dem man feiert und den Altrhein abwärts treibt, da sich der Bass zu bewegen schien. Dann blieb es eine Weile stehen, vielleicht einen halben Kilometer vom Zelt entfernt und plötzlich herrschte Stille. Nur noch ich und die Grillen und die Vögel und die Schnecken, die sich deutlich hörbar durchs Gras nagten. Vielleicht kam das Basswummern von Kiffern, oder von denen, die an einem Wasserbauwerk an die Betonwand „Merkel muss weg“ geschrieben hatten?
Ich erinnere mich an das abgeerntete Feld, das ich vorgestern passierte, auf dem tausende schwarzer Vögel saßen und pickten. Als ich mich näherte, flogen sie reihum auf und ließen sich weiter hinten nieder. Dabei war deutlich eine Grenze zu sehen, ab der der Schwarm floh und der Rest blieb sitzen. Wie eine Laolawelle fliehender Vögel sah es aus.
Auf meiner Reise um die Nordsee 2012 hatte ich am deutschen Teilstück des Fernradwegs eine Infotafel gesehen, die über die Fluchtdistanz von Vögeln Auskunft gab. Die einzelnen Vogelarten waren darauf abgebildet und darunter stand die jeweilige Fluchtdistanz. Manche Distanzen waren bis zu einem Kilometer groß. Bei „meinen“ vorgestrigen Vögeln hätte man die Fluchtdistanz mit dem Maßband ausmessen können. Vielleicht fünfzig, hundert Meter. Fasziniert beobachtete ich, was ich anrichtete.
Das Wissen über die Fluchtdistanz habe ich mir sozusagen auf der Straße angeeignet.
Nun mache ich gerade einen Ausflug in die Welt des Wissens und des Wissenserwerbs, der bei uns Menschen ja vornehmlich in der Schule stattfindet. Ich sehe mich selbst als ewig Lernenden. Das war nicht immer so. In der Schule dachte ich tatsächlich, bring es hinter dich, tu das, was sie von dir wollen, in zehn Jahren biste fertig und kannst alles.
Danach bin ich aber zu so einer Art Jäger und Sammler von Wissen zurückmutiert. Die Fluchtdistanz habe ich auf dem Nordseeradweg erjagt. Anderes im Internet. Überall liegt Wissen, das man aufsammeln kann und es der Seele als Nahrung zuführen kann. Über die Schule dachte ich vorhin, dass sie so eine Art Wissensmastanstalt ist, dass man gestopft wird, bis die cerebrale Leber fett und nutzbar geworden ist. Gibt es Wissen in Freilandhaltung? Biologisch angebautes Wissen, Wissensäcker, Wissensresteverwertungen, Wissensrecycling, Dreifelderwirtschaftswissen, Raubwissen, welche Formen der Wirtschaft kennen wir noch?
Am Rheinradweg könnte ich alle paarhundert Meter stoppen und mir die Schautafeln ansehen und erfahren, was darauf steht. Was war das für ein Wasserbauwerk, an dem ich gestern vorbeiradelte und wo jemand den Merkel-Spruch angesprayt hatte? Es stand eine Tafel daneben. Wegen der Lagerplatzsuche fuhr ich vorbei. Erbetteltes Wissen, Wissen, das man durch Erfahrungspfandsammeln erwirbt, all die geistigen Ernährungsformen. Es ist herrlich und oppulent und es endet nie.
Freilaufwissen ohne Zaun. Aber auch ohne Stall (Diplome etc.)
„Ich studierte im Autodidaktikum“ 😉
Klasse Gedankenfutter!
Danke, meine Liebste.
Freilandwissen und biologisch angebautes Wissen etc., das gefällt mir sehr- und ja, es hört nie auf, so man will …
herzlichst Ulli
So lasset uns denn ewig lernen.
„Wissenserwerb … vornehmlich in der Schule“, ich glaube, wir als Schule sehen uns so nicht (mehr). (Ich spreche für mich, viele meiner KollegInnen, für viele andere Schulen – hoffentlich – auch.) Eine Neugierde wecken, ja. Fasern aufzeigen, mal hineintasten ins Gewirkte, ja. Am „Ende“ – Schulende – allen Stoff fertiggewebt haben – nein, nicht in Ansätzen. Wir hoffen, dass wir einen wachen Blick lehren. Mehr braucht es ja nicht.
(Die Panik, dass Unterricht ausfällt und wir nicht alles „schaffen“, haben interessanterweise eher die Eltern.)
Wenn ich schaue, wie meine Kinder in der Schule arbeiten, ist das deutlich anders als wir selbst es früher erlebten. Und es kommen viel mehr Aspekte zum Tragen als nur „Wissen“.
Allerdings: meine beiden Fächer gehören zu den „traditionellsten“, im nicht immer nur positiv zu sehenden Sinne. Im Ma- und Ph-Unterricht liegt vieles im Argen, mich wurmt das, ich suche immer (und sicher noch mein Berufsleben lang) nach Ideen, wie die Friss-oder/und-stirb-Färbung meiner eigenen Einflussbereiche aufzulösen sei. Wie ich die mir Anvertrauten mitformen kann zu Menschen, die sich später auf die Suche nach Freilandwissen machen werden und im Autodidaktikum, ganz gleich mit welchem Fokus, studieren wollen …
So (berufliche) Lebensfragen, für mich. Danke für diesen Text!
Herrlich wie Du das schreibst. Das gibt Hoffnung.
Ich finde auch, dass diese Einstellung große Hoffnung macht. Gerade als Elter.