Der ungegrüßteste Mann Sankt Gallens by Irli | #flussnoten

Westwärts. Die Sonne steht schräg. Der Zug rauscht mit achtzig, hundert Sachen Richtung Zürich. Wie es den Kurven beliebt, schimmert das Abendlicht mal von rechts, mal von links, so dass wir die Jalousien herunterlassen, um nicht geblendet zu werden. Die Servicefrau des Bordrestaurants hat sich müde auf ihren Stuhl fallen lassen. Hektik trieft aus allen Poren. Nein, Hektik kann nicht triefen, das wäre zu langsam. Hektik spritzt aus offenen Wunden. Was für eine elende Rutsche zurück in den Alltag, in die Sesshaftigkeit.

Eben noch dümpelten wir im Schatten einer kleinen Weide zwischen Rheindamm und Bodensee, schon packte uns Angler Sven, den wir zufällig kennenlernten nebst Sohn Fabio, Angelausrüstung und Rucksäcken in seinen Audi und wir drifteten derart eingedost Richtung Sankt Margareten, siebzehn Kilometer weit, unbehelligt über die österreich-schweizerische Grenze, rausgelassen am Bahnhof, rauf aufs Gleis, 19:52 fährt ein Zug via Sankt Gallen und Zürich, SoSo bucht im Gehen via Handy und schon schlägt die Zugtür hinter uns zu und schon durchsausen wir das grüne Hügelland, alles fliegt, gerät zum horizontalen Strom vor dem Zugfenster, Häuser, Kühe, Menschen, Fabriken, weiter weiter weiter und schon spuckt uns der Zug in Sankt Gallen aus, fünf Minuten Umstiegszeit, das reicht, sagt Frau SoSo und läuft auf eine Imbissbude zu, in der ein verschwitzter, gestresster Mann steht und die Umsteigenden abarbeitet und als wir dran sind, vergesse ich zu grüßen, bemerke es beim Bezahlen, ärgere mich darüber, über diese sinnlose Hektik, noch drei Minuten bis der Zug fährt, Frau SoSo greift die Brötchen, fünfzig Franken werden gewechselt und zum Abschied, das hatte ich mir fest vorgenommen, zum Abschied zu lächeln, vergesse ich das Lächeln und ich glaube auch, Tschüss zu sagen.

Der ungegrüßteste Mann Sankt Gallens, geht es mir durch den Sinn. Wieviele Menschen wohl täglich an seinen Imbissstand kommen, gehetzt zwischen zwei Zügen auf die Uhr starrend, vergessen zu grüßen, oberflächlich apathisch panisch hektisch in einem Hickhacktakt dahintreiben? Ob es ansteckend ist? Ob es ihn auch in Stress und Unruhe versetzt, wenn seine Gegenüber so sind? Ob er sich damit abgefunden hat, zu einem Ding geworden zu sein, das hinter einer Glastheke Brötchen und Brezeln verpackt und Geldscheine wechselt?

Sankt Gallen ist ein winziger Provinzbahnhof. Mehr als vier Gleise habe ich nicht gesehen. Eigentlich ein ruhiges Kleinod, wo sich prima umsteigen ließe.

Dass es so schnell gehen musste mit dem Wechsel vom Wandererleben ins hektische Alltagsgefüge wundert mich. In der Spiegelung des Zugfensters beobachte ich die erschöpfte Servicefrau des Bordrestaurants. Ihre müden Augen, die Sorgenfalten auf der Stirn, wie sie sich die halblangen Haare hinters Ohr streicht. Ich sehe, dass sie den Feierabend herbeisehnt. Mann und Kind? Vielleicht haben die für sie gekocht oder sie überraschen sie mit etwas Schönem.

2 thoughts on “Der ungegrüßteste Mann Sankt Gallens by Irli | #flussnoten


  1. Hallo Ihr Beiden,
    beim Lesen dieses Berichts ist mir wieder einmal etwas in Erinnerung gekommen, was mir hierzulande so gut gefällt: „ungegrüßt“ gibt es nicht. Würde ich so ganz apodiktisch einmal behaupten. Ob unter Fruenden und Bekannten, ob an der Kasse im Supermarkt, ob am Schalter im Postamt, ob wenn der Handwerker an der Tür steht: immer heißt es [manchmal zuerst vom Gegenüber, manchmal zuerst von mir] „Hi, how’s it going?“ oder „How are you (doing) today?“ oder so ähnlich. So gut wie überall gibt es dieses freundliche Entgegenkommen, sei auch die Hektik noch so groß. Und verabschiedet wird sich auch, mit „Have a nice/wonderful day/afternoon/evening“ oder so.
    Habt ein feines Wochenende,
    Pit

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