Nach dem Vorspann („Vor der Reise“) und dem 1. Kapitel („Vom Oberalppass bis an den Bodensee“) schieben wir nun einige Intermezzi ein. Nach der Reise ist bekanntlich vor der Reise. Oder ist alles Reise?
Von Anfang an angedacht war, dass Irgendlink das restliche Stück (Bodensee – Rotterdam, am Stück oder in zwei Teilen) mit dem Rad erfährt – bloggend, twitternd, Karten kreierend und den Rhein betrachtend. Wie genau und wann genau dieses 2. und vielleicht auch 3. Kapitel entsteht, wissen wir nicht so genau.
Vorgestern meinte Irgendlink gar, dass es eigentlich auch gut und rund sei, wie es jetzt ist. Das gemeinsame Reisen hat eine andere Qualität; eine, die das Alleinereise nicht hat. Nicht besser, nicht schlechter – einfach anders. Und weil dies doch unser gemeinsames Projekt ist, Langstreckenradeln für mich aber noch nie wirklich eine verlockende Sache war … Nun denn … wir werden sehen. Mir luege mal.
Auf dem letzten Wanderstück, gestern vom Bahnhof Brugg bis zu meiner Wohnung, querten wir den Festplatz, wo übermorgen die 1. August-Feier, der Geburtstag der Schweiz, gefeiert werden soll. Das riesige Festzelt steht. Innen Biertischgarnituren, außen ebenso. Frischgemähte Wiese.
Eins ums andere Mal haben wir, auf den zwei letzten Kilometern zueinander gesagt: „Schau, hier wäre doch ein guter Zeltplatz! Oder nein, da … oder dort.“ So versuchten wir uns das Heimkommen in die Struktur eines Wohnhauses mit Nachbarn drumrum zu erleichtern. Nicht, dass ich mich nicht auf Bett und Bad gefreut hätte, doch je näher wir dem Wohnhaus kamen, desto größer wurde die Gewissheit: Kapitel eins ist zu Ende. Wehmut.
Nach der ersehnten Dusche hingen wir auf dem Sofa herum und gaben uns internett (danke, Frau Rebis für dieses tolle Wort!). Surfen in einem WLAN mit am Kabel angeschlossenem Handy. Boah. Das große Prassen. Nicht auf den Akkustand und das Prepaid-Guthaben schielen müssen. Mal wieder andere Blogs lesen. Mal wieder …
Klingt grad so, als hätten wir es vermisst? Nein. Ja. Jein.
Mit verquollenen Augen, einem gefühlt aufgedunsenen Gesicht und sich anschleichendem Kopfweh bin ich heute früh erwacht. Kein Vergleich mit dem Gefühl, das ich nach einer Nacht im Zelt habe. Natürlich ist ein Bett komfortabler, aber … Gibt es etwas Schöneres, als am Morgen zu erwachen und aus dem Zelt zu krabbeln, direkt in die aufgehende Sonne blinzelnd, sich zu strecken und dem Glitzern des nahen Flusses zuzublinzeln? Meine Alltagsmorgenmuffeligkeit ist im Wanderalltag nur eine blasse Erinnerung. Auch andere Zipperlein haben kaum Platz.
Auf einmal realisierte ich, dass wir einundzwanzig Tage immer draußen waren – wenn man die Nächte im Stall und in der Ferienwohnung abzieht. Und unsere Einkaufszeiten in Dorfläden und Einkaufsmalls.
Im Halbdunkel des morgenfrühen Zimmers kritzelte ich schon bald ein paar Gedanken auf den Block, während sich Irgendlink wohlig seufzend noch einmal drehte.
‚Kontraste‘ könnte ich das Ergebnis wohl nennen.
Auf der einen Seite, in der Spalte unter dem Titel „Leben in der Natur“, steht:
- Mangel und Fülle sind unmittelbarer erfahrbar, insbesondere bezüglich Wasser [und Strom]: Mal haben wir viele volle Flaschen in den Rucksäcken (und ihr entsprechendes, schweißtreibendes Gewicht am Rücken), mal haben wir fast leergetrunkene Flaschen und sehnen uns ihrer Leere und unseres Durstes wegen nach einem Brunnen. Ist er gefunden und wir wieder mit vollen Flaschen ausgestattet, leben wir dieses Fülle glücklich und dankbar.
- Draußen sein: Sich dem Wetter anvertrauen. Vertrauen … ja, und >
- Demut: Ich kann vieles nicht beeinflussen. Ich bin Teil des Ganzes. Kleiner Teil des Ganzen. Alles ist verbunden. Ich bin.
- Wildzelten (versus Zeltplatzzelten): Noch einen Tick abhängiger sein von den selbst gewählten Plätzen, Gegebenheiten, Unwägbarkeiten. Niemand da, der für die Infrastruktur verantwortlich ist. Keine Sitzgelegenheiten, falls der Platz nicht zufällig eine Grillstelle oder ähnliches ist. Keine Toiletten und Duschen, aber auch keine Ablenkungen durch Lärm/Geplapper. Allerdings auch keine Begegnungen mit Zeltnachbarn.
- Vertrauen: Siehe 2. und 3., aber auch Vertrauen ineinander, in den Körper, in dessen Grenzen und Ressourcen, in unsere je eigene mentale Kraft, in die Natur, so unberechenbar sie auch immer ist.
- Mäandern: Wer je zu Berge gestiegen ist, kennt das Mäandern (siehe Bild unten vom ersten Wandertag als Irgendlink und ich den Pazzolastock erwanderten). Ich finde ja, dass es die einzige wahre Art ist, wahrhaftig durchs Leben zu gehen. Schnurgerade Wege sind mir suspekt, auch in Lebensläufen. Auch der Rhein und andere Flüsse fließen natürlicherweise in Mäandern, wo immer der Mensch sie lässt. Damit sie sich selbst regulieren. Damit sie nicht über die Ufer treten.
In die zweite Spalte auf meinem Blatt schrieb ich:
- Alles-immer-jederzeit zu haben: Ich muss nicht warten, bis ich wieder Wasser trinken und schöpfen kann. Da ist immer irgendwo ein Wasserhahn in der Nähe. Und da sind Steckdosen. Da gibt es WLAN. Alles da. Ich kann bequem konsumieren. Ich nutze alles selbstverständlich.
- Drinnen sein: Geschützt und geborgen vor Hitze, Kälte, Regen ist toll. Wirklich (… aber ich bekomme oft nicht mit, wie heiß, wie nass und wie kalt es da draußen ist.) HUCH, es tropft … schnell raus, die saubere Wäsche abhängen. Fast hätte ich es nicht mitbekommen …
- Verfügbarkeit/Machbarkeit: Ich bekomme wenig mit von den Unbilden da draußen, wenn ich mich im Alltag in meinen Räumen bewege. Im ganz konkreten aber auch im übertragenen Sinn. Ich funktioniere. Ich habe mich den Zahnrädern des Alltags angepasst.
- Zeltplatzzelten: So viel anders als daheim ist das Zeltplatzzelten zuweilen gar nicht. Nun ja, abgesehen von der räumlichen Eingeschränktheit natürlich. Ansonsten aber habe ich auf einem Campingplatz alles, was das Herz zu begehren glaubt: Strom, Wasser, Dusche, Tische und Bänke, Einkaufsmöglichkeiten am Platz oder in der Nähe etc. Die Infrastruktur gleicht jener des zivilisierten westlichen Alltags so sehr, dass unser lieber Zeltplatznachbar R., der mit seiner Familie am Rhein entlang radelte, sich fragte, warum diese Leute (nun ja, er meinte vor allem jene mit ihren Wohnwagen-Villen) überhaupt hierher gekommen sind, wenn sie eh nur fernsehen und in ihren Hightechküchen herumwerkeln wollen.
- Kontrolle: Ich habe alles im Blick und brauche kein Vertrauen in Was-immer. Schließlich kann ich alles selbst machen, holen, kaufen …
- Der schnurgerade Weg: Wenige Lebensläufe verlaufen schnurgerade, Flussläufe und Wege nur dann, wenn der Mensch sie so legt, um das Tempo zu erhöhen, die Effizienz zu steigern. Oder, beim Fluss, um mehr Land zu Verfügung zu haben. Mit schnurgeraden Wegen berauben wir uns jener Erfahrungen, die vielleicht anstrengender, aber gerade deshalb heilsamer und auf eine andere Art lohnenswert sind, als der schnurgerade Weg.
Ich will mit diesen Gedanken niemandem zu nahe treten, der nicht meine Art Reisen bevorzugt. (Aber verstehen muss ich es ja auch nicht.)
Ebenfalls von R. stammt der Gedanke, dass Ferien oder Reisen doch eigentlich möglichst anders als der Alltag sein sollten, um den Kontrast fühlbarer zu machen. Die Dankbarkeit zu erhöhen. Etwas zu erfahren, was im Alltag nicht so leicht erfahrbar ist. Etwas zu sehen. Etwas fürs Leben zu lernen. Für den Alltag auch.
Andererseits ist es ja genau der Alltag, der uns – mich zumindest – am meisten herausfordert. Seine Wohltemperiertheit ist es, die mich nach unserer wilden, wunderbaren, anstrengenden, mühsamen, herrlichen Fernwanderung von der Rheinquelle bis zum Bodensee beinahe schmerzt. Die Sehnsucht nach Einfachheit wird mich vielleicht dazu bringen, unnützen Ballast, der sich in meinem Leben und in meinen Räumen angesammelt hat, abzuwerfen. Vielleicht. Vielleicht gewöhne ich mich aber auch einfach wieder und schnell daran, dass es so ist, wie es ist. Nicht besser, nicht schlechter, anders. Alltag eben.
Ganz prima „Nachgedanken“ zu Eurer Wanderung, liebe SoSo!
Habt ein feines und geruhsames Wochenende zuhause,
Pit
Danke dir herzlich, lieber Pit. Euch auch ein erholsames Sein und nicht zu heiß!
Gern geschehen, liebe SoSo. Zu heiß ist es nicht, aber doch immerhin etwa 35 Grad. „Zu heiß“ wäre, wenn das Thermometer über 40 klettert.
Wir werden heute, wie auch gestern [http://tinyurl.com/zxs97c9], gemütlich grillen und uns einen guten Nachmittag und Abend gönnen.
LG,
Pit & Mary
Super!
Schöne Nach(t)gedanken. Vielleicht zum Ausdrucken und nach ein, zwei, vier Wochen wieder lesen und sehen, was sie dann zum klingen bringen.
Gute Idee, danke dir!
Schade, dass du dich enttwittert hast. Vorübergehend?
Habs gut.
Enttwittert – klingt nett. Meine Timeline hat mich zeitlich und emotional sehr belastet, so dass es mir nicht gut ging. Und ich selber habe auch wenig Interessantes zu twittern.
Vielleicht finde ich einen Weg, die guten Anteile – wie eure Reiseminiaturen – zu stärken. Aber ich weiß noch nicht ganz, wie.
Ach so, ja. Hast du es schon mit „Nur-Listen-Lesen“ versucht. In den Listen dann nur jene, die dich nicht belasten?
Oder die Leute, die du lesen willst, einzeln anklicken?
So mache ich es oft.
Ich hoffe, du findest eine Lösung.
(„Authentisch“ twittern finde ich übrigens persönlich erstrebenswerter als „interessant“.)
Liebe Soso, ich erinnere mich gut, wie es nach wochenlangem Draußenleben ist plötzlich wieder 4 Wände um sich herum zu haben. Du hast dieses Anderssein von unterwegs mit und ohne Zelt und Zuhause wunderbar benannt, danke. Weiterhin gutes Ankommen und Nachklingen
herzlichst
Ulli
Ja, es ist echt nicht leicht – körperlich fast schwieriger als mental: Wieder dieses heuschnupfenähnliche Jucken und ein „benebelter“ Kopf. Seltsam das.
Das wäre ja noch interessant zu untersuchen was für „Stoffe“ in deiner Wohnung verstrichen/verbaut worden sind … ???
Dacht‘ ich auch schon.
(Bist du zurück von der Wanderschaft?)
sehe deine Frage erst jetzt- nein, ich bin noch bei K., komme Sonntag zurück- mache auch nur Pause bei mir selbst, euch lese ich und ein paar wenige andere …
herzliche Grüße
Ulli