Abschied. Es muss Abschied heißen, nicht Aufbruch. Der heimische Schreibtisch bringt es an den Tag. Da nämlich liegt das Buch. Wie in einem der frühen Artikel zu unserer Rhonereise erwähnt, hatte ich auf dem Bahnsteig Basel Badischer Bahnhof ein Buch mitgenommen. Es lag in der Hitze des vorletzten Donnerstags unter einer Bank neben zwei weiteren Büchern. Ich hob sie auf und stellte sie wie in der Auslage einer Bücherei auf das Bänkchen, damit sie einen Leser, eine Leserin finden mögen. Peter Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“ steckte ich selbst ein. Vielleicht könnte ich aus dem Bändchen zitieren und ein paar Verknüpfungen für unsere geplante Reise die Rhone abwärts herstellen, wer weiß?
Das Buch ist rot. Es zeigt eine gelblich-orangene Nordamerika-Silhouette ohne Kanada. Der Kontinent endet in der Hintergrundfarbe bei den großen Seen und bei einer einem Breitengrad folgenden Linie links bis zum Pazifik. Mitte Mexiko ist der untere Buchrand. Eine Linie führt über verschiedene Punkte durch die USA. Das Buch handelt vermutlich vom Reisen, denke ich und das passt doch gut, denn wir reisen ja auch. Am Abend vor der Abreise ins Wallis schaue ich ein paar Seiten, lese von einem Hotel und vom Liftboy, den der Autor „der Neger“ nennt. Gewöhnungsbedürftig aus der Sicht zig Jahre nach Erscheinen des Buchs, muss ich sagen. Aber auch Hoffnung gebend. Die Welt bessert sich in Nuancen. Wie langsam sich unsere Ansichten und Werte doch verschieben, nicht immer zum Guten, aber doch auch zum Guten und das stimmt positiv.
In meinem Artikel von vor einer Woche, in dem ich das Buch erwähnte, erinnerte ich mich nicht mehr an den Titel, suchte vergeblich im Netz. Es ist etwas kniffelig, im Zeltlager in den Bergen auf dem Minitelefoncomputer Recherche zu betreiben und auch nicht notwenig. Ein Blogartikel ist immer eine unscharfe, grobe Behauung des Endprodukts, des fertigen texts. Da darf es auch mal holpern oder unstimmig sein.
Nacharbeit an diesen Texten wird ohnehin nötig. Zu Ergänzendes nachgeliefert, irgendwann. Überflüssiges gelöscht, vielleicht. Schreiben ist eine harte Ausdauerarbeit. Sie ähnelt dem Radfahren und dem Langstreckenwandern, zweifellos.
Ich hatte nach den Begriffen Handke und Aufbruch gesucht. Aufbruch klingt ja auch irgendwie wie Abschied, finde ich. Wer aufbricht, muss auch Abschied nehmen. Ein kurzer Blog zum langen Aufbruch.
Am gestrigen Morgen sitzen wir auf der völlig vertrockneten Wiese des Campingplatzes Visp direkt neben der Parkplatzfläche. Die Rucksäcke gepackt an einer Holzbarriere gelehnt. Sonne brennt. Nach und nach brechen alle Durchreisenden auf, jaulen die Wohnmobildiesel, klappern die Vorzeltgestänge. Auch das rumänische Pärchen, das nachts sein Zelt direkt neben uns aufgebaut hatte, bricht das Lager wieder ab. Zum Frühstücken sitzen sie auf einer Bierbank beim Raftinglager nebenan und lesen einander aus der Bibel vor, so hatte es Frau Soso erzählt. Bibel? Bist du sicher? Ich schwörs, ich kenne das, sagt sie. Nun.
Die Familie aus nahe Rotterdam direkt neben uns schickt sich an, einen Wanderausflug zu machen. Sie hätten uns sogar ihr Auto geliehen – ich weiß nicht, ob das ein Scherz war. Für uns kam es aber auch nicht in den Sinn. Frau Soso ist seit zwei Tagen zwar etwas angeschlagen gesundheitlich, aber wir sind dennoch voller Wanderlust.
Exkurs: „Das ist also die berühmte Wanderslust“ tönte es vom Wanderweg. Ich hebe die Augenlieder. Zwei drei Tage her dieser Satz. Gesprochen hatte ihn ein Hochleistungsfernwanderer mit schwerem Rucksack und in voller Wandermontur. Lange, wasserabweisende Hosen finnischer Bauart, Regenüberzug. Es. Hat. Dreißig. Grad. Im Schatten. Und der Typ schleicht an uns vorbei und höhnt. Tse. Wir wollten die Mittagshitze ausliegen unter einer akrobatisch gekrümmten Kiefer. Ameisen so groß wie Kleinfingerkuppen. Um die Ecke surrte ein Kraftwerk und die erstarkende Rhone rauschte. Die höhnische Wurst wanderte weiter noch ehe mir ein müdes Gnadenbeifallgekicher über die Kehle kam. Ich werde dich in einem Blogartikel erwähnen, mein wanderlust’ger Gesell. Diese Hitze!
Gestern. Wie jeden Morgen streifen wir die Rucksäcke über und legen los. Zehn Uhr, die Sonne leckt. Auf der Promenade folgen wir der Vispa bis zur Rhonemündung, überqueren den Fluss und wandern auf staubigen Wegen westwärts. Welch bizarres Szenario. Wie Endzeit wirkt der Himmel, der sich wie eine umgedrehte Pyramide zwischen die Berghänge quetscht, mit der Spitze auf der Rhonelinie zum Stehen kommt. Wenn die Welt zweidimensional wäre oder ein Gemälde. Ein Endzeitgemälde. Gelber Himmel, wuchtige Quellwolken. Nur der Westwind lindert die Glut. Dunst liegt überm Tal. Eine schwer zu beschreibende Athmosphäre. Hinter der vergilbten Luft ist jedenfalls auch Blau zu vermuten. Ein helles, milchiges Blau.
Mit dem Bus fahren wir ein paar Serpentinen hinauf bis Bahnhof Außerberg, streiten um die weitere Wegführung. Während ich zur Lötschberg-Südfußroute möchte, plädiert Frau Soso zum alten Kulturweg etwas unterhalb am Berg.
Sagen wir es mal so, zum Glück laufen wir den Kulturweg. Viele Infotafeln am Wegrand weißen auf interessante Gegebenheiten hin. Eine in den Fels gehauene zwei meter tiefe Viehtränke etwa oder die Basisinformation zum Weg, nämlich, dass er früher die einzige dauerhaft begehbare Route die Rhone aufwärts war. Der Kulturweg ist Eselskarren breit und oft mit Steinen befestigt. Fast schon im Stil einer alten Römerstraße.
Mittags geraten wir ins Stocken. Frau Sosos Infekt meldet sich mit starken Schmerzen, will und will nicht ablinkgen. Trotz aller Hausmittel. Freitag früher nachmittag. Keine Arztpraxis in der Nähe ausfindig zu machen, noch nicht einmal eine Apotheke. Bei einem schönen Rastplatz nahe Sankt German lungern wir eine Weile herum, spannen die Hängematte auf, ruhen, baumeln im Wind. Der ist stark und er mürbt an den Nerven. Schmerzen. Zudem erinnert sich Frau Soso, einen Notvorrat des wohl indizierten Antibiotikums zu besitzen. Daheim im Kühlschrank. Verflixt.
Die Entscheidung fällt nicht schwer. Auf dem Handy Zugverbindungen heraussuchen, Fahrkarten kaufen, 378 Meter Luftlinie sind es bis zur nächsten Postauto-Haltestelle in Sankt German. Nix wie hin. Gegen 14 Uhr war klar, dass wir heim fahren und um 16 Uhr sitzen wir im Bus runter nach Raron, Rilkestadt. Bahnstation direkt an der Rhone, drei Stunden Fahrt etwa und wir sind bei der Medizin.
Ein kurzer Abschied vom Fluss. Und ein langer Blogartikel zu ebendiesem.
Ob ich traurig bin? Nein. Frau Soso? Vermutlich auch nicht.
Abschied ist Aufbruch.
Abschied ist Aufbruch und nach der Wanderung ist vor der nächsten (Fluss-?)Wanderung. Ihr werdet das fortsetzen, da oder dort, da bin ich mir sicher.
Oh.
Gute Besserung. Von ganzem Herzen gewünscht.
Herzlichen Dank. Schön, dass du mitgewandert bist
Hoffentlich wird es schnell wieder gut! Auch von mir gute Besserung!
Herzlichen Dank für die Besserungswünsche. Es ist inzwischen schon viel besser. Noch nicht gut und ich bin froh, dass wir uns fürs Heimkehren entschieden haben. Einen schönen Sonntag wünsche ich dir herzlich.