Selten ist eine Nacht ganz und gar schwarz. Vorletzte Nacht, neunhundert Meter über dem Meeresspiegel, als ich nachts zum Pinkeln aus dem Zelt gekrochen war, wurde mir ganz schwindlig, als ich den Sternenhimmel über mir bestaunte. Kein Mond zu sehen, aber Sterne, so unendlich viele Sterne. Ein einziges großes Funkeln. Ich tappte ohne Taschlampe durch die Nacht, dachte an Le., die vor wenigen Tagen gestorben ist, an meine Freundin L., die ihre Mutter verloren hat, an uns alle und wie klein wir doch sind. Eine Erkenntnis, die mich angesichts der Berge und ihrer Majestät und angesichts des unendlichen Sternenhimmels immer wieder neu umhaut. Ich werde demütig und dankbar zugleich.
Nach dem Frühstück bauen wir das Zelt ab. Den letzten Tropfen Wasser teilen wir uns, darauf hoffend, bald einen Brunnen zu finden. Es ist schon gut warm, als wir den Abstieg Richtung Filet-Mörel angehen. Da, ein Wasserhahn, juhu! Wir füllen unsere Flaschen und netzen unsere Kipfbedeckungen. Nach einem feinen Wanderwegstück durch waldiges Terrain ergeben wir uns dem Teer, der uns zu einem großen Teil heute begleiten wird.
Doch trotz Teer kann ich mich heute großenteils dem Flow hingeben.
2010 war es gewesen, als Irgendlink seine Pilgerreise nach Santiago de Compostela angetreten hatte, nicht aus religiösen Gründen, mehr aus küstlerischem und sportlichem Interesse sozusagen, auch wenn ihn das Thema Pilgerschaft faszinierte. Zurück von seiner Reise waren Fernwandern und Pilgern Themen, die uns immer mal beschäftigten.
»Ich könnte niemals auf einem ausgetretenen Katholenweg fernwandern!«, sagte ich. »Und schon gar nicht in Massenunterkünften, ohne Privatsphäre, schlafen. Aber das Fernwandern, ja, das reizt mich.« Wo könnten wir denn auf nicht ausgetretenen Wegen unseren ganz eigenen Pilgerweg finden? So überlegten wir, bis die Idee, einem Flusslauf zur Quelle zu folgen, Gestalt annahm. Ich Unterländerin ich dachte mir: »Klasse, Flüsse sind ja ziemlich flach, das könnte ich schaffen!« Denkste! Die Flusswege führen nämlich längst nicht immer am Fluss entlang, die Schweiz ist ein hügeliges Land und die meisten Flüsse kommen aus den Bergen, wo sie als Quellen und Seen ihre Anfänge nehmen. Tja. Wir wachsen bekanntlich an und mit unseren Wegen.
Dank meiner Naivität tat ich meine ersten Fernwanderpilgerschritte am Ufer der Reuss und fand mich eines Tages, an Irgendlinks Seite auf dem Gotthard wieder, halb erfroren, klitschnass geregnet und trotzdem sehr glücklich.
Ich habe, ehrlich gesagt, nie eine offizielle Definition von Pilgerschaft gelesen, doch Tag 5 unserer Rhônewanderung war genau das, was ich als Pilgern empfinde: Gehen mit einer Art Egalität der Wegbeschaffenheit gegenüber. Gehen, um des Gehens Willen. Gehen, um den Kopf leer zu bekommen. Gehen und dabei dem Innen und dem Außen Gelegenheit zu geben, zusammen zu kommen.
Nach unserm Einkauf in Mörel (u. a. gab es ein neues Ladekabel!) finden wir den Wanderweg wieder und in der Nähe eines Sportplatzes eine baumbeschattete Ruhebank. Nach dem Picknick telefoniere ich mit Freundin L., und erfahre, dass ihre Mutter am Mittwoch in einer Woche beerdigt wird. Mir ist schon seit Montag klar, dass ich da hingehen werde. Mittwoch also. So werden wir zwei bis Dienstagabend weiterpilgern, weiterwandern und dann den Zug nach Hause besteigen. Ein paar Tage früher als geplant. Es ist, wie es ist. Leben ist Sterben.
Auch aus Irgendlinks Zuhause gibt es Nachrichten. Eine OP. Leben ist Hoffen. Leben ist Heilen.
Nach viel Teer, einem erfrischenden Rhônebad mit Kleiderwaschung und vielen Rhônebrücken füllen wir am Dorfbrunnen in Naters – hier lang sind wir, um Brig nördlich zu umwandern –, ein letztes Mal alle unseren Wasserflaschen und steigen über einen Kreuzweg bergan.
Hoch über der Rhône, hoch über Brig und Naters, haben wir unweit vom Gardemuseum unser Nachtlager aufgeschlagen. Gekocht und gegessen haben wir zu Tische. Denn vorm Museum stecken zwei große lange Picknicktische.
Im nahen Bewässerungskanälchen füllen wir den Duschwassersack und gönnen uns eine kalte Ganzkörperdusche vorm Schlafengehen. Es ist noch immer weit über zwanzig Grad.
Geschlafen haben wir beide eher mittelprächtig. Sorge um liebe Menschen hält wach. Die Stadt brummt, die Rhône, inzwischen ein breiter Fluss, rauscht laut.
Das Zelt ist längst abgebaut und wir sitzen wieder an den Tischen, diese Zeilen hackend. Blauer Himmel verspottet den Wetterbericht mit x % Regenwahrscheinlichkeit. Wir sind übrigens wieder auf der zuhause angedachten Route. Ich bin gespannt, auf den Weg, der vor uns liegt.
„Leben ist Sterben. Leben ist Hoffen. Leben ist Heilen.“
Danke SoSo.
Spät docke ich bei euch an – bis hierher habe ich wieder gerne eure Wege und Sichten gelesen, gesehen.
Für heute euch eine Gute Nacht und sanfte Träume.
Herzlichst, Ulli
Herzensdank, Ulrike, für dein Mitwirken!
Danke dir, liebe Ulli, dass du mitwanderst!