Dreißigtausend Pfadfinderinnen und eine böse Walliser Radlerin by ^irli #flussnoten

Es ist kein Beinbruch, eines Missverständnisses wegen irgendwo bei einem einzelstehenden Haus in einem zauberhaften Wald voller uralter Nadelbäume auszusteigen. Der Postautofahrer fuhr mit größter Sorgfalt in die Haltebucht, deren Betonfläche durch Frostsprengung zu einem nahezu unbefahrbaren Etwas mutiert ist. Rhonequelle tönt es aus dem Lautsprecher. Frau Soso hatte in ihrem gestrigen Blogartikel schon über das Missverständnis berichtet. Kann ja niemand ahnen, dass es tausend Meter unterhalb der echten Rhonequelle ein Hotel Restaurant gleichen namens gibt, dem man auch einen Bushaltestellennamen widmet.
Die zur echten Quelle am nächsten gelegene Bushaltestelle heißt Furka Belvedere und um dort hin zu kommen, hätten wir in Gletsch Post umsteigen müssen.
Nix Rhonegletscher, nix Eishöhle, nix Belvedere, aber auch nix unendlich viele Franken Eishöhleneintritt womöglich und Touristenmassen und dünne Luft und wenn man sich den Himmel anschaut, da kommt was auf uns zu. Der Ausstieg beim Hotel Rhonequelle könnte traumhafter nicht sein. Uralte Nadelbäume, Geborgenheit, ein Teich mit Springbrunnen unmittelbar hinter dem Hotel, das eigentlich eher wie ein großes Wohnhaus aussieht. Unser Zauberwald ist hektargroßes relativ flaches Areal, in dem wir direkt das Zelt aufbauen würden, wenn wir müde wären aber wir kraxeln ein bisschen. Das prognostizierte Nachmittagsgewitter trifft uns just vor einer kleinen Kapelle, wo wir Schutz finden, abwarten, weiter wandern. Die Nikolauskapelle ist nur etwa drei meter breit und sechs meter lang, beherbergt unterm gewinkelten dach ein heimeliges, eingebautes fingiertes Rundgewölbe. Auf dem Altar ein Kasten voller Zettel, auf denen Vorbeikommende ihre Wünsche hinterließen. Pilgerstempel gibts auch und in der Exke steht ein Hexenbesen. Die sechs Holzbänke sind unendlich unbequem. Man ist ja nicht zum Spaß hier.
Die Tour fing eigentlich bestens an, denke ich mir nun, am Morgen von Tag drei der Wanderung. Zwanzig Kilometer haben wir schon erwandert, ließen es ruhig angehen und im Nachhinein muss ich sagen, es war gerade gut so. Das Schicksal hat die nötigen Barrieren in den Weg gelegt, damit man nicht allzu nassforsch loslegt und schlecht ausgerüstet oben in der Baumlosigkeit sich die Knöchel verstaucht, sich die Lust aus dem Leib wandert, durchnässt und durchfriert oder vom Blitz erschlagen wird.
Der Charakter der Wanderung ist mittelgebirgisch, würde ich sagen. Fast wie Schwarzwald. Wir folgen dem alles domnierenden Tal, in dem an diesem Wochenende das Bundeslager, ein gigantisches Pfadfindertreffen, endet. Über zehn Kilometer weit sind die Wiesen von Obergesteln abwärts belegt mit Zelten und Bühnen, dreißigtausend Pfadfinderinnen und Pfadfinder feierten das alle vierzehn Jahre stattfindende eiwöchige Beisammensein.
Der gestrige Tag: gemütliches Forst- und Wiesenwegewandern, meist dem Rhoneradweg folgend, der deckungsgleich mit dem als Rottenweg bezeichneten Wanderweg verläuft. Unangenehme Begegnung mit motzender Radlerin: meine erste Beschimpfung auf Wallisschweizerdeutsch, immerhin, nur weil ich dumm staunend mitten auf dem Weg stand, ich weiß nicht, was sie schimpfte und ich hatte nicht genug Zeit, der Frau hinterherzurufen, da wo ich herkomme, sind wir nett zu den Menschen. Was ja auch nicht stimmt, denn meist bin nur ich und ein paar wenige nett und sonst herrscht auf den Wegen, auf denen wir einander begegnen und die wir miteinander teilen, Kampf, Angst, Hass und Gegenrede. Es gibt kein Verzeihen, denke ich mir, keine Milde, kaum noch Gnade in der Welt, alles was uns ärgert, trifft, behindert wird sofort mit einem Kampfmodus erwidert, verbal meistens, irgendwie hat sich die Welt mächtig verändert, seit ich in ihr bin, aber vielleicht täusche ich mich. Seine Erinnerungen biegt man sich ja auch in ein feinkleines Lebensträumchen zurecht.
Eine Weile nehme ich die Böse Walliserin mit in meinem ach so schweren Reisegepäck, bis die Natur und die Weite des Tals Absolution erteilen, und als die schimpfende Walliserin uns eine Stunde später wieder entgegen kommt, denke ich, ach, sieh an, man begegnet sich immer zwei mal. Und was dann? Ganz baff denke ich, nichts, und schweige. Wozu Gegenrede, wozu Kampf, wozu Groll?
Der malmende Fluss nebenan, seine Katarkte, das erste Stauwehr. Ein komischer Typ in Jägerkleidung stapft mit einem Entenlocktrötchen vor dem Stauwwehr herum, ruft die Tiere, wirft ihnen Brot hinunter die zwei drei Meter hohe Betonmauer. Daneben seine robuste Frau und die beiden Hunde Diana und Poldi. Poldi, das steht für Leopold, erklärt sie und ich denke unweigerlich, die beiden sind aus Österreich. Zumindest sehen sie für mein Klischeehirn so aus. Sie sind Gäste auf dem Campingplatz, den wir eine Stunde zuvor passiert hatten, schon seit zwanzig Jahren kommen sie hier her, sagt die Frau. Die Hunde tollen umher und die Frau warnt uns noch, dass hier Campieren verboten sei und die Polizei öfter kontrolliere. Weshalb wir uns zwischen Tag und Dunkel noch einen Kilometer weiter schleppen in ein kleines Wäldchen.
Theoretisch ist Wildzelten in der Schweiz überall erlaubt, vor allem für Wandernde wie wir, aber dann kommen die Einschränkungen, denn jede Gemeinde kocht ihr eigenes Süppchen. Gut möglich also, dass im oberen Wallis Wildzelten überall verboten ist. Das würde die Polizeistreifen erklären, die am Radweg entlang patrouillieren. Nichts Genaues weiß man nicht und wenn wir sicher gehen wollten, müssten wir auf jeder Gemeinde, die wir durchqueren im Rathaus nachfragen, wie es sich vor Ort verhält. Unbequem das.
Unser aktueller Standort ist Ritzingen. Ein Wäldchen direkt neben der Rhone. gegenüber des Flusses ziehen Schiene und Straße vorbei, touren Wohnmobile und Motorradler auf und ab. Ab und an ein langer, roter, alter Zug hinauf zum Furka. Und hier auf unserer Flussseite die ersten Radlerinnen und Radler. Es soll regnen heute. Bis zum übernächsten Campingplatz sind es mindestens fünfzehn Kilometer.

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