Als ich aufwache, bin ich erstaunt, wie still es so um halb sieben, sieben auf dem Visper Zeltplatz ist. Mit und ohne Ohropax. Ob die sehr helle Straßen- und Sportplatzbeleuchtung irgendwann in der Nacht ausgeschaltet wurde, habe ich nicht mitbekommen. Ich habe, nach einer hohen Dosis D-Mannose und einer Melantonin-Kapsel sehr gut und tief geschlafen und bin ohne Schmerzen erwacht.
Hätte ich, wäre ich … Hätte ich dennoch gleich prophylaktisch mit der hohen Dosis D-Mannose-Gabe weitergemacht, würde ich jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, vielleicht nicht im heimischen Bett sitzen und mit externer Tastatur tippen, sondern noch immer irgendwo in den Walliser Bergen die Handytastatur bearbeiten. Wer weiß das schon so genau? Hätte ich dies, wäre vielleicht das. Solche Fragen sind müßig.
Wir stehen munter auf und schon bald rühre ich, wie jeden Morgen, meinen Pfannenbrotteig an und schreibe Blog, wir frühstücken, bauen das Zelt ab, packen die Rucksäcke und machen uns auf den Weg.
Auf den Weg? Auf welchen der vielen Wege? Linksrhônisch oder rechtsrhônisch? Irgendlink sagt, dass er uns gern wieder in den zuhause angedachten Höhenweg auf der nördlichen, rechten Rhôneseite einspuren möchte, doch falls ja, wo? Sollen wir via Eggen oder via Baltschieder nach Ausserberg wandern? Schaffen wir das bei dieser Mordshitze – und noch wichtiger! –, wollen wir das, wollen wir beide das?
Ich schlage vor, rechtsrhônisch auf halber Höhe weiterzuwandern. Via Sankt German. Wir überlegen hin und her, unterschiedliche Bedürfnisse treffen aufeinander. Unterschiedliche Realitäten, unterschiedliche Ressourcen. Einig sind wir uns darin, dass es uns in die Höhe zieht, in mehr Natur und weniger Menschengewusel. Alles andere bleibt Verhandlungssache.
In Baltschieder finden wir kurz nache einem Brunnen einen VOLG-Laden, wo wir uns für das bevorstehende Picknick eindecken. Seit Tagen besteht mein Picknick aus Pfannenbrot mit Butter, Gurkenscheiben und, falls wir einkaufen konnten, einer halben Kugel Mozzarella – nicht eben abwechslungsreich und lustvoll, aber es nährt seine Frau. (Zuweilen, ich gestehe es, beneide ich Irgendlink, wenn er seine Joghurtdrinks und seine leckeren Käse isst). Die zweite Hälfte der täglichen Mozzarella-Kugel habe ich mir jeweils fürs Abendessen aufgehoben. (Ein Experiment, das wohl geglückt ist, da ich normalerweise wegen meiner Histaminunverträglichkeit keinen ungekühlten Käse vertrage. Im Urlaubsmodus scheine ich mit Histamin-Überflutung besser klarzukommen, vermutlich.)
Als wir den Laden verlassen, spricht uns ein älterer Mann an, fragt nach dem Woher und Wohin. Rauf wollen wir, sagt Irgendlink. Es fahre ein Postauto hoch, sagt der Mann. (Was ich natürlich längst wusste, aber Irgendlink nicht vorschlagen wollte, gehört doch zum Fernwandern das Rauf und Runter dazu.) Irgendlink dankt dem Mann für den Tipp und da die Postautostation gleich um die Ecke ist, entscheiden wir zu meiner großen Erleichterung, dass wir mit dem Postauto nach Ausserberg hochfahren. Noch immer ziept die Blase leise und ich überlege, eine weitere Dosis D-Mannose einzunehmen, die ich am Morgen einzunehmen vergessen habe. Doof. Ich müsste dazu allerdings meine Tasse herauskramen. Aber ach, es tut ja nur ein bisschen weh. Wir werden ja eh bald picknicken.
Na ja, hätte ich doch bloß da schon, denn wir müssen eine Dreiviertelstunde auf das Postauto warten! Tja. Vielleicht hätte es genützt?
In Ausserberg, vor dem Wegweiser stehen, müssen wir dann entscheiden, ob wir uns in den Höhenweg einzufädeln sollen und noch ein bisschen höher gehen, dann wären wir dort, oder aber Richtung Sankt German zu wandern, wieder leicht abwärts, Richtung Raron. Wir debattieren hin und her. Wieder reiben unterschiedliche Bedürfnisse aneinander.
Dabei stelle ich fest, dass es bei den drei frühern Flusswanderungen einfacher war, gemeinsam die zu wandernden Strecken auszuhandeln, da wir keine von zuhause angedachten Routen hatten. Wir hatten einfach Tag für Tag die Karte konsultiert und vor Ort entschieden.
Doch natürlich hat eine angedachte, geplante Strecke ein paar große Vorteile. Als Wandernde kennen wir schon vorab alle unsere Möglichkeiten. Trotzdem schränkt so ein Masterplan ein und schnell kann sich eine Abweichung vom Plan als die falschen Wahl anfühlen. Obwohl sie doch einfach eine weitere Möglichkeit ist. (Ein Gedanke, der gern metaphorisch weitergesponnen werden darf.)
Meine heutigen Kräfte sind wegen HItze und leichtem Blaseninfekt deutlich reduziert, weshalb wir uns schließlich für eine Weiterwanderung Richtung Sankt German entscheiden und uns vorbehalten, von dort aus wieder zum Höhenweg aufzusteigen.
Es ist im Grunde ein schönes Wegstück, das wir da gehen, wäre da nur nicht diese brutale Hitze. Es sieht, wie schon die letzten Tage immer mal wieder, ein wenig wie im sommerlichen Südfrankreich aus. Ich fühle mich optisch in die Pyrenäen versetzt.
Einerseits fließt es – der Weg, der Fluss –, andererseits ziept es. Die Schmerzen in meiner Blase haben wieder zugenommen. Ich brauche bald eine Pause. An einem richtig tollen Rastplatz inmitten der Weinberge, die wir durchwandern, picknicken wir. Irgendlink montiert die Händematte zwischen Holztisch und Baum und döst ein wenig, während ich meine Gedanken aufschreibe. Irgendwann stelle ich fest, dass die Schmerzen nun mit voller Wucht zurückgekehrt sind. Ich nehme also nicht nur mein D-Mannose-Pulver, sondern auch eine Schmerztablette. Beides wirkt nur sehr bescheiden und so langsam wird es mir unheimlich. Ich fröstle bei der Hitze, was allerdings auch mit dem starken Wind zu tun hat.
Ich recherchiere nahe Ärzte und Apotheken, doch in den beiden nächsten Orten gibt es weder das eine noch das andere. Den Notfall zu alarmieren empfinde ich dann doch ein wenig übertrieben, obwohl ich mich inzwischen buchstäblich krümme ob der brennenden Schmerzen in meinem Unterleib.
Mir fällt wieder ein, dass daheim ein ärztlich verschriebenes Notfallantibiotikum liegt, das ich vor etwa anderthalb Jahren dann doch nicht gebraucht habe.
Wir überlegen. Runter nach Raron, einen Zeltplatz finden, eine Apotheke, eine Arztpraxis? Gibt es nicht, habe ich ja schon recherchiert. Die Reise hier als vollendet erklären und nach Hause fahren? (Zusätzlich zu den Schmerzen ärgere ich mich und bin ich wütend auf mich, dass mir das hier passiert, dass ich nicht dies und das und rechtzeitig und überhaupt.) Hilft aber alles nichts. Wir gehen erstmal nach Sankt German. Irgendlink hilft mir mit dem Rucksack. Beim Gehen ist das Feuer im Unterleib ein bisschen weniger schmerzhaft als beim Sitzen. Immerhin.
Das Postauto ab Sankt German fährt erst um 16:00. Es ist glutheiß im Buswartehäuschen, aber unweit davon entfernt gibt es eine Laube mit zwei Bänken, wo wir uns die Dreiviertelstunde verdulden und schließlich endgültig die Entscheidung treffen, nach Hause zu fahren. Es tut weh, das zu entscheiden. Es wird wieder lange dauern, bis wir das nächte Mal zusammen in die Ferien reisen können. Dennoch fühlt es sich für beide richtig an. Zumal ja auch noch andere familiäre Dinge in der Schwebe sind. Es ist, wie es ist.—-
Antiheldin und Antiheld reiten in den Sonnenuntergang. (Ha. Schön wärs.)
Am Handy löse ich zwei Billette von Sankt German nach Hause, das letzte Stück statt zu Fuß mit dem Postauto ab Heimbahnhof, denn das macht den Preis auch nicht mehr teurer. (Hin- und Rückfahrt sind mit Abstand die größten Kostenpunkte unserer Reise. Für das Geld hätten wir locker zweimal ins Hotel gehen können.)
Als wir ins Postauto steigen, fragt Irgendlink den Chauffeur, wie weit es denn vom Aussteigeort bis zum Bahnhof zu laufen sei. Da sagt der Chauffeur, er könne heute gern über den Bahnhof fahren, es seien noch Schulferien und er müsse darum nicht am Schulhaus vorbei, Kinder abholen. Das sei nur ein kleiner Umweg, kein Problem, mache er gern. Wow!
Am Bahnhof Raron dann wieder über eine halbe Stunde Warterei. (Ich erspare euch hier jetzt die Details des Abenteuers „Pinkeln auf einem Dorfbahnhof ohne Toilette“.)
Von Raron bis nach Hause wechseln wir den Zug einmal in Visp, einmal in Bern, einmal in Olten und schließlich steigen wir ins Postauto bis fast nach Hause. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir ziemlich Glück haben. Immer Sitzplätze trotz sehr voller Züge, immer nette Sitznachbarinnen, sogar einen Hund namens Lucky dürfen wir kennenlernen. Und die Toiletten sind allesamt sauber. Kurz und gut: Es könnte schlimmer sein. Die Schmerzen bleiben mir zwar treu, doch in den klimatisierten Zügen lassen sie sich irgendwie aushalten. Zum Glück.
Daheim dann die große Erleichterung, angekommen zu sein. Tabletten suchen, Tee kochen, lauwarmes Bad einlassen, loslassen.
Später kochen wir uns Spaghetti und Gurkensalat … und noch später hängen wir – ich mit Bettflasche – auf dem Sofa herum. Traurig und froh. Und dankbar. Und erleichtert, als sie Schmerzen langsam abklingen.
Und heute, am Tag 9, am Tag plus 1, wieder daheim? Fühlt es sich merkwürdig an. Die Seele ist noch nicht ganz angekommen. Oder schon viel zu sehr wieder. Die Mittel wirken langsam und die Schmerzen sind verglichen mit gestern nur noch einen Drittel so schlimm.
Da ist Dankbarkeit für das Erlebte. Da ist Dankbarkeit für das Hierseindürfen, mit Dach überm Kopf und so. Und das ist gut.
Die Seele wird noch ein Weilchen brauchen, vielleicht. Und vielleicht ist auch das gut, so wie die Entscheidung, die ihr getroffen habt. Es ist, wie es ist.
Gute und schnelle Besserung, meine Liebe! <3
Danke. Genau das.
Ich übe mich in Geduld, bin nicht gern krank. Und die Seele, ach ja …
Aber es ist gut, wie es ist.
Ich danke dir.